„Die Leute haben Angst“

Viele Flüchtlingsunterkünfte unter Vollquarantäne wegen Corona: Landesflüchtlingsräte, Pro Asyl und Seebrücke-Bewegung fordern gemeinsam deren sofortige Auflösung

Wie lässt sich in einer Flüchtlingsunterkunft Abstand halten? Foto: Karsten Thielker

Von Susanne Memarnia

Die Landesflüchtlingsräte, Pro Asyl und die Seebrücke-Bewegung fordern die sofortige Auflösung aller Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland und die Aufnahme aller Schutzsuchenden aus den sogenannten Hotspots in Griechenland. Die „katastrophalen Auswirkungen“ von Massenunterkünften zeigten sich jetzt in der Coronakrise besonders deutlich, erklärte Helen Deffner vom Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt für die Landesflüchtlingsräte am Montag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz. Viele Heime in Deutschland stünden inzwischen unter Vollquarantäne. „Zu Hunderten werden Geflüchtete auf engstem Raum untergebracht und dadurch zwangsläufig dem gefährlichen Virus ausgesetzt. Die Durchseuchung der Lager wird in Kauf genommen.“

Ein Beispiel dafür ist die Situation in Hennigsdorf bei Berlin. Die Großunterkunft für mehrere hundert Menschen steht seit dem 18. April unter Quarantäne. Die BewohnerInnen würden keinerlei Informationen und Hilfe bekommen – „außer von der Kirchengemeinde“, berichtete Nde Nzongou Barthelemy, ein Bewohner, auf der Video-Pressekonferenz. „Die Leute haben Angst, die Polizei ist immer da.“

In seinem Haus (es gibt insgesamt fünf Häuser in dem Heim) seien 78 Menschen positiv getestet worden, nur drei negativ. „Aber in den Mehrbettzimmern für zwei bis vier Leute waren alle immer zusammen.“ Und seit die Quarantäne für sein Haus 2 am Samstag beendet worden sei – die anderen Häuser seien weiterhin isoliert –, müssten die BewohnerInnen grüne Bändchen am Handgelenk tragen, wenn sie das Heim verlassen wollen. Als er am Wochenende mit dem Bändchen „draußen“ war, habe auf der Straße prompt eine Frau auf ihn gezeigt.

Günter Burkhardt von Pro Asyl betonte, das Recht auf Gesundheit gelte für alle Menschen: „Es gibt kein Menschenrecht zweiter Klasse!“ Daher fordere seine Organisation schon seit März die dezentrale Unterbringung von Geflüchteten. Er verwies auf mehrere Gerichtsurteile, etwa vom Verwaltungsgericht Leipzig (Az.: 3 L 204/20.A), die klagenden Flüchtlingen zuletzt recht gegeben haben, dass ihre Gesundheit durch die Unterbringung in Massenunterkünften gefährdet sei und sie das Recht hätten, dort auszuziehen. Die Politik müsse nun entsprechend handeln, forderte Burkhardt. „Es kann nicht sein, dass man für jeden Fall einzeln vor Gericht gehen muss.“

Dasselbe gelte auf europäischer Ebene, heißt es in der Presseerklärung. Die EU ignorierte schon lange vor Ausbruch der Pandemie unzählige Appelle zivilgesellschaftlicher Organisationen nach humanitärem Schutz und Aufnahme, nun verdeutliche die Coronakrise die Dringlichkeit der Evakuierung. Im Lager Moria auf Lesbos etwa seien Ende Januar 2020 im Inneren des Hotspots auf 200 Menschen eine Dusche und eine Toilette gekommen. Außerhalb des Hotspots, wo Tausende Menschen in improvisierten Zelten leben müssen, seien es bis zu 500 Menschen pro Dusche.

Tareq Alaows von der Seebrücke-Bewegung kritisierte daher, dass die Bundesregierung weiter auf Abschreckung setze und sich mit dem Verweis, es brauche eine „europäische Lösung“, aus der Verantwortung stehle. Dies, obwohl es inzwischen mehr als 50 Kommunen gebe, die sich zu „sicheren Häfen“ erklärt haben, Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Dass die Bundesregierung nach Monaten der Diskussion gerade mal bereit sei, 47 Kinder aufzunehmen, sei absurd – zumal 19 von ihnen Familienangehörige in Deutschland hätten und daher ohnehin das Recht, hierher zu kommen. Angesichts dieses Unwillens müssten nun die Bundesländer vorangehen, forderte Alaows.

Die Länder Berlin und Thüringen, die bereits eigene Aufnahmeprogramme vorbereitet haben, „müssen das jetzt starten und notfalls gegen den Bund klagen“, wenn er die Zustimmung zur Aufnahme weiterhin verweigert. „Wir fordern echte Solidarität und ein Europa, an dessen Grenzen Menschen nicht beschossen, zurückgeschoben oder eingesperrt werden.“