Turnen in der Coronapause: Ohne Impfung kein Olympia

Wochenlang waren italienischen Turnerinnen in ihrem Trainingszentrum in Quarantäne. Ihr Trainer hat die jungen Sportlerinnen beschult.

Eine Turnerin

Anfang März turnte Giorgia Villa bei einem Wettkampf in den USA. Danach ging es in die Isolaion Foto: ZUMA wire/imago

„Wir dürfen jetzt endlich wieder normal trainieren, aber genau jetzt hören wir hier erst mal auf! Wir machen zu und fahren alle nach Hause.“ Enrico Casella, Cheftrainer der italienischen Turnerinnen, lacht bitter, als er das letzte Woche erzählt. Es wirkt wie eine verkehrte Welt: Genau in jenem Moment, in dem Millionen Menschen in Italien erstmals wieder das Haus verlassen und anderen Menschen als der eigenen Familie begegnen dürfen, sehen die Turnerinnen ihre Familie erstmals wieder. Gut zwei Monate hatte fast das ganze Nationalteam im Turnzentrum am Stadtrand Bres­cias – oder wie Casella es nennt „in Enklave“ – verbracht.

Was absurd scheint, ist allem voran sehr ernst: Die Provinz Brescia, gelegen zwischen Mailand und dem Gardasee, mit gleichnamiger Hauptstadt, in der das Trainingszentrum liegt, ist eine der am stärksten von Covid-19 betroffenen Gegenden Italiens. Deutlich über ein Prozent der knapp 1,3 Millionen Menschen hier hat sich mit dem Virus infiziert, relativ gesehen mehr Menschen als in Bergamo, jener lombardischen Stadt, aus der die Bilder der vom Militär abtransportierten Särge stammen, die um die Welt gingen. Bislang starben in der Provinz Brescia über 2.300 Menschen.

Der studierte Nuklearingenieur Enrico Casella, in seiner Jugend ein erfolgreicher Rugbyspieler, ist der Trainertyp, der immer ganz genau weiß, was richtig ist. Der sportliche Erfolg spricht für den 63-Jährigen, der auch gern mal ruppig ist: die erste italienische Mehrkampfweltmeisterin überhaupt, Vanessa Ferrari, stammt ebenso aus dem von ihm mitbegründeten Verein „Brixia“ wie vier der fünf Turnerinnen, die bei der WM in Stuttgart im vergangenen Jahr Bronze mit im Teamwettbewerb gewannen. Es war das erste Mal seit 2007, das die Vertreterinnen aus den USA, Russland und China die Medaillen nicht unter sich ausgemacht haben. Logisch, dass Casella sich für 2020 einiges vorgenommen hatte.

Vom Wettkampf in die Isolation

Anfang März reiste er mit der gerade 17-jährigen Giorgia Villa zum American Cup, einem Turnier, in dem Punkte für noch offene Olympia-Startplätze vergeben wurden. „Auf der Rückreise, das war der Sonntag, habe ich begriffen, dass da was im Busch ist, und allen gesagt, sie sollen sofort ins Zentrum zurückfahren.“ Einen Tag später, Montag den 8. März, wurde in der gesamten Lombardei eine strikte Ausgangssperre verhängt.

Mit zehn Turnerinnen, fast alle noch minderjährig, und einer Köchin begab sich Casella in Quarantäne auf dem gut 8.000 Qua­dratmeter großen Gelände. Zunächst schien es ein Coup: Auf der ganzen Welt konnte die Konkurrenz nicht mehr in ihre Hallen und in Brescia wurde weiter trainiert, wie immer zweimal täglich.

Dann kam die Absage der Olympischen Spiele: „Das war ein heikler Moment, für ein paar Tage war es schwierig, uns zu motivieren. Aber das ging vorbei.“ Seit Anfang April untersagte dann eine nationale Anordnung das Hallentraining, auch in der brescianischen Enklave. Beide Großväter von Giorgia Villa, die aus der Provinz Bergamo stammt, starben an Covid-19. Trotz allem blieb die Gruppe weiterhin geschlossen auf dem Gelände und joggte zuletzt trainingshalber 30 Runden um Halle, Internatsräume und den Pool.

Quasinormalität Quarantäne

„Es waren die Eltern, die den Verband gebeten haben, dass die Mädchen hier bleiben dürfen“, sagt Casella. „Das Gelände zu verlassen, wäre sehr gefährlich gewesen.“ Die Mädchen, die mehrheitlich unter der Woche auch sonst hier leben, hätten so immerhin „eine Quasinormalität“ und viel Platz gehabt. An den Wochenenden organisierte Casella Schnitzeljagd und Modenschau, lehrte die Turnerinnen Briscola und übernahm den Mathematik-Unterricht, während die anderen Fächer auf Online-Lehre umgestellt wurden.

Man werde es jetzt, wo das Training wieder erlaubt ist, ruhig angehen, sagt Enrico Casella. Drei bis vier Monate wird es brauchen, bis die Turnerinnen wettkampfbereit sind, aber momentan ist völlig offen, ob es in diesem Jahr überhaupt noch Wettkämpfe geben wird. Und die Olympischen Spiele 2021? „Wir fahren entweder geimpft nach Tokio oder gar nicht“, ist er sicher und meint damit keineswegs nur das italienische Team: „Ich glaube, wenn es keine Impfung gibt, wird es auch keine Spiele geben.“ Das wäre dann schon tragisch für eine ganze Generation von Turnerinnen.

Aber erst mal gehe es in der Lombardei und in Brescia darum, die keineswegs schon beendete Krise zu bewältigen. Wann das sein wird, das weiß selbst Enrico Casella nicht. Sicher ist eins: Am heutigen Montag, nach fünf Tagen Urlaub zu Hause, wird das Training in Bres­cia wieder aufgenommen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

▶ Alle Grafiken

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.