Blick auf New York City

Blick über den Hudson River auf Manhattan Foto: Eduardo Munoz

Stillstand in der US-Metropole:Frühjahrsblues in New York City

Das Coronavirus hat die US-Metropole weiter fest im Griff. Luxushotels bieten Hilfskräften und Obdachlosen Schlafplätze – abgesehen vom Trump-Hotel.

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11.5.2020, 10:47  Uhr

Ohne Samuel Hargress wird Harlem nie wieder so sein, wie es war. Mehr als 50 Jahre lang saß er Abend für Abend an der Theke des Paris Blues. Immer herausgeputzt für den großen Auftritt: dreiteiliger Anzug, Stiefel mit mehreren Zentimeter hohen Absätzen, farblich abgestimmter Hut, ein passend schillerndes Tuch in der Brusttasche und selbst um Mitternacht noch eine dunkle Sonnenbrille. Dazu ein breites Grinsen und ein paar freundliche Worte für jeden, der hereinkam.

Hargress hatte die Musikbar im Jahr 1969 eröffnet, als er von seiner Zeit als GI zurückkam. Seither hat er unbeirrt an seinem Konzept festgehalten: Jazz oder Blues live jeden Abend, kein ­Eintrittsgeld und das ursprüngliche Dekor – von der Holzverschalung der Wände, über die unbequemen, klebrig gewordenen Sitzbänke bis hin zu den Funzeln, die nur eine Andeutung von Licht werfen. Bloß ein paar neue Bilder sind dazugekommen. Darunter das Foto von Michelle und Barack ­Obama, das zwischen den Bourbon­flaschen steht.

Das Paris Blues hat viele Krisen überstanden. Von der Crack-Epidemie der Achtziger bis zur Gentrifizierung der nuller Jahre. Während um ihn herum die alten Bars zumachten, blieb Hargress. Weil ihm das kleine Eckhaus gehörte und weil er keine Wuchermiete zahlen musste, konnte er es sich erlauben. Die Immobilienjäger, die ihm bis zu 10 Millionen Dollar für das Haus boten, ließ er abblitzen. Besuchern aus Deutschland erzählte er, dass er im August 1961 beim Mauerbau in Berlin gewesen sei, solchen aus Frankreich, dass sein Großvater bei der Befreiung Frankreichs im Ersten Weltkrieg eine Freiheit gespürt habe, die Schwarze in den USA nicht kannten.

Jetzt hat ihn das Coronavirus erwischt. Am 10. April, einen Tag nach seinem 84. Geburtstag, ist Hargress gestorben. Zu diesem Zeitpunkt war seine Bar wegen der vom New Yorker Gouverneur verfügten Pandemie-„Pause“ schon seit drei Wochen geschlossen. Auf der kleinen Terrasse am Adam Clayton Powell Jr. Boulevard stehen Blumen und Kerzen.

Tourismus, das erste Opfer der Pandemie

Das Virus hat alle Branchen in der City getroffen. Aber nirgendwo sonst bedroht es die Gesundheit und das Leben der Beschäftigten wie auch ihre ökonomische Existenz so weitreichend wie in der Unterhaltungs- und Tourismusbranche. Der Tourismus war das erste ökonomische Opfer der Pandemie.

Von den Bars über die Restaurants bis zu den Fähren, von den Museen über die Broadway- und Off-Broadway-Theater bis zu den Doppeldeckerbussen geht im Augenblick in New York nichts mehr. Die Zahl der Besucher der Stadt, die für dieses Jahr einen neuen Besucherrekord erwartet hatte, ist fast auf null abgestürzt.

„95 Prozent unserer Mitglieder haben in den letzten Wochen ihre Arbeit verloren“, sagt Brooks Bitterman von der Gewerkschaft Unite Here. Die Gewerkschaft organisiert US-weit 300.000 Beschäftigte. Die meisten von ihnen arbeiten in den großen Hotelketten, in Spielkasinos, im Catering und in den Flughäfen. Insgesamt sind allein im Bundesstaat New York bereits 80.000 direkte Hotelbeschäftigte plus 238.000 (von insgesamt 529.000) Beschäftigte von Zulieferunternehmen – darunter Putzkolonnen, Handwerker, Fahrer – wegen der Pandemie entlassen worden. In den nächsten Wochen wird ihre Zahl weiter steigen.

Nahezu verwaist: der Times Square im April 2020 Foto: Mark Peterson/redux/laif

Für die Branche in den USA ist das, was jetzt passiert, die schwerste Katastrophe der Geschichte. „Schlimmer als 9/11 und die Finanzkrise von 2008 zusammengenommen“, sagt Chip Rogers, Chef des Lobbyverbands der Hoteliers, der American Hotel and Lodging Association. Katastrophen waren bislang entweder regional begrenzt oder zeitlich befristet. Oder beides.

„Katrina“, der Hurrikan im Sommer 2005, hat vor allem New Orleans und Louisiana verwüstet. Die Attentate vom September 2001 waren auf New York und die Hauptstadt Washington konzentriert. Aber die Pandemie ist überall. Und niemand weiß, wie lange sie dauern wird, und schon gar nicht, ob, wie und wann der Tourismus anschließend wieder aufleben wird.

Totaler Leerstand bei Airbnb

Auf einem Video für seine Investoren kämpft Arne Sorensen, der Chef von Marriott, der größten Hotelkette der Welt, im März mit den Tränen, als er erklärt: „Die Lage war nie ernster.“ Wenige Tage zuvor hat der Konzern Zigtausende seiner zu Jahresanfang noch 174.000 Beschäftigten in den USA entlassen. Das Einzige, was Sorensen hoffen lässt, sagt er, ist die „frühe Erholung“ in China.

In New York City, der meistbesuchten Stadt des Landes, wurden die Touristenströme seit Mitte der 90er Jahre jedes Jahr größer. Lediglich in den beiden Jahren nach den Attentaten von 2001 nahm die Zahl der Besucher um jeweils eine Million ab. Nur um ab 2003 umso steiler in die Höhe zu schnellen. Im letzten Jahr waren 67 Millionen Besucher in New York. Die meisten von ihnen hatten in Hotels oder Privatunterkünften gebucht. Jetzt stehen vier von fünf Hotelzimmern in der Stadt leer. Bei Airbnb ist der Leerstand noch totaler. Während einer Pandemie will niemand im Haus eines Fremden wohnen.

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Die wenigen New Yorker Hotels, die jetzt noch viele belegte Zimmer haben, sind in die Bekämpfung der Pandemie involviert. Das Fünfsternehotel Four Seasons ist eines davon. In einer viel beachteten Aktion hat es 225 Zimmer als Gratisunterkünfte für Krankenhausbeschäftigte zur Verfügung gestellt. Jetzt wohnen dort Pflegekräfte und Ärzte, die zur Verstärkung von außerhalb nach New York gereist sind, und New Yorker, die bei sich ausgezogen sind, um ihre Angehörigen nicht anzustecken.

Das Hotel hat seine Restaurants geschlossen, die Minibars weggeräumt und zwischen den belegten Räumen Zimmer freigelassen, damit das Virus sich nicht ausbreiten kann. Andere New Yorker Luxushotels bieten Hilfskräften Räume zu Niedrigtarifen an. Und zahlreiche billigere Hotels vermieten ihre Räume jetzt an die Stadt. Die hat dort Obdachlose einquartiert, eine Bevölkerungsgruppe, die von dem Virus besonders bedroht ist.

Joggerin

Joggen in der leeren Stadt Foto: Lucas Jackson

Schräg gegenüber dem Four Seasons – ebenfalls mit Blick auf den Central Park – befindet sich ein weiteres Fünfsternehotel. Das Trump International Hotel beteiligt sich nicht an den gastfreundlichen Gesten anderer Unternehmen. Es bietet seine Zimmer weiterhin für 575 Dollar pro Nacht an. Wegen der Pandemie hat es bereits 70 Beschäftigte entlassen. Die Kette des Präsidenten, die gegenwärtig von seinen beiden Söhnen verwaltet wird, hat Hilfen aus dem Rettungspaket der US-Regierung beantragt.

Schlangen an Suppenküchen

Das „Trump International“ in Washington, D.C., das in einem bundeseigenen Gebäude sitzt und zu dessen wichtigen Kunden die Gäste des Präsidenten gehören, ist bei der Bundesregierung vorstellig geworden und hat eine Mietsenkung beantragt. Bei einer Recherche in sieben Trump-eigenen Hotels in den USA hat „ProPu­blica“ nirgends „staatsbürgerliche Gesten“ gefunden.

Bei der Gewerkschaft Unite Here stellen sich mit den Massenentlassungen jede Menge existenzielle Fragen. Unter ihren Mitgliedern sind überproportional viele afroamerikanisch oder Latinos, ein Teil hat keine Aufenthaltspapiere, und die meisten Beschäftigten sind Frauen. Die Löhne sind niedrig, und kaum jemand hat Reserven auf der Bank. Viele Entlassene stehen schon jetzt Schlange an den Suppenküchen für Arme in New York.

Wenn ihre in den Washingtoner Rettungspaketen beschlossenen Übergangshilfen für Arbeitslose nach drei Monaten auslaufen, werden sie auch ihre Mieten nicht mehr zahlen können und tiefer abstürzen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verlieren die meisten von ihnen auch die Krankenversicherung. In den USA sind Krankenversicherungen an den jeweiligen Arbeitgeber gebunden. Wer überhaupt eine Krankenversicherung hat, verliert sie in der Regel zugleich mit dem Arbeitsplatz.

Für die ersten drei Monate hat Unite Here arbeitslos gewordene Mitglieder in eine Krankenversicherung aufgenommen. Viele Mitglieder gehören zu gesundheitlichen Risikogruppen, haben bereits bestehende Erkrankungen und sind medizinisch unterversorgt. Die Gewerkschaft unterstützt sie jetzt bei Mietstreiks und Fundraising. Doch nach dem Wegfall der meisten Mitgliedsbeiträge kann Unite Here solche Leistungen nicht unbefristet erbringen.

Jene, die ohne langfristige Arbeitsgenehmigung in New York im Tourismus arbeiten, überlegen, ob sie überhaupt staatliche Hilfen beantragen sollen. „Weiß jemand, ob ich dadurch womöglich meinen nächsten Visumantrag gefährde?“, fragt eine europäische Jazzmusikerin, die sich in New York durchschlägt, ihre Kollegen. Der US-Präsident hat die Behörden angewiesen, Immigranten, die in den USA Sozialleistungen in Anspruch nehmen, Negativpunkte zu geben.

Die großen Hotelkonzerne haben Anliegen in anderen Größenordnungen. Sie verstehen die bislang von der US-Regierung bewilligten Rettungsprogramme in Billionen-Dollar-Höhe als Hilfe, um die Krise zu überstehen und fällige Darlehen an Banken zu zahlen. Unite Here und andere Gewerkschaften hingegen appellieren an Washington, nur solchen Unternehmen öffentliche Hilfen zu zahlen, die ihre Beschäftigten behalten und zurückholen.

Offene Fragen

Aber allen Beteiligten der Branche stellt sich die bange Frage, wie ihre Zukunft aussehen wird. „Da gibt es jede Menge Unbekannte“, sagt Gewerkschafter Bitterman: „Wann gibt es einen Impfstoff und eine Behandlung, wann öffnen die Unternehmen, wie entwickelt sich die Nachfrage, wie funktioniert in Zukunft das Social Distancing?“

Jan Freitag, der die Hotelbranche für die Datenverarbeitungsfirma STR beobachtet, geht davon aus, dass als Erstes die Freizeitreisenden nach New York zurückkommen werden, die Wochenendtouristen. Ihnen werden die Geschäftsreisenden folgen, prognostiziert er. Als die große Frage betrachtet er, wann wieder Kongresse und Konzerntreffen stattfinden werden. „Dazu“, sagt er, „muss klar sein, wie man einen Kongress mit 2-Meter-Abständen organisiert.“

Zu den vielen offenen Fragen gehört auch, wie viele kleinere Hotels aufgeben werden, bevor sie wieder ins Geschäft kommen können. Und ob Privatunterkünfte wie Airbnb künftig noch funktionieren werden. Beim Interview mit einem New Yorker Radiosender gibt sich Airbnb-Chef Brian Chesky optimistisch. „Unsere Gast­geber werden blitzblanke Räume haben, werden sie desinfizieren und zwischen jeder Vermietung 24 Stunden leer lassen“, versichert er. Aber ­Hotelfachleute halten es für möglich, dass die Touristen der Zukunft eher auf standardisierte Reinigungs­methoden von Kettenhotels setzen werden.

Im Theaterdistrikt von New York City flimmert die Leuchtwerbung für manche Shows auch sieben Wochen nach Beginn der „Pause“. Aber die Drehbuchautorin und Journalistin Gwyn McAllister, die in dem Nachbarquartier Hell’s Kitchen wohnt und sich gewöhnlich durch dichte Trauben von Touristen aus aller Welt zur Subway am Times Square kämpft, geht jetzt allein durch stille Straßen. Der Gouverneur von New York hat die „Pause“ vorerst bis zum 15. Mai verlängert. Aber McAllister erwartet, dass es länger dauern wird. Als „persönliche Bewältigungsstrategie“ hofft sie auf eine „Rückkehr zu einer gewissen Normalität“ ab dem 13. Juni.

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