Corona-Lockerungen in Deutschland: Das Vertrauen schwindet

Wenn Regierungen Vorschriften erlassen, die sie gar nicht kontrollieren können, dann hat der Staat ein Problem.

Menschen und Polizei in einem Berliner Park

Wer kann das coronamäßig angemessene Verhalten da noch kontrollieren? Foto: dpa

Ich lebe in einem gut funktionierenden Staat, gemessen am Rest der Welt – und ich empfinde das durchaus als Privileg. Wie scharf ich meine jeweilige Regierung auch kritisiere, wie sehr ich mich über die Verwaltung immer mal wieder ärgere: Der Maßstab war stets, dass „der Staat“ und alle seine Instanzen, bis hinunter auf die niedrigste Ebene, funktionierten. Darauf habe ich als Bürgerin eines demokratischen Landes einen Anspruch. Und der wurde seit Jahrzehnten, von Schönheitsfehlern abgesehen, weitgehend erfüllt. Ich habe mich darauf verlassen können.

Vorbei. Seit einigen Tagen beobachte ich – ziemlich fassungslos –, wie ausgerechnet hochrangige Politikerinnen und Politiker diesen Anspruch untergraben. Sie erlassen Vorschriften, die von den zuständigen Stellen nicht mehr zu überprüfen sind. Anders ausgedrückt: Sie hindern Polizei und Ordnungsamt daran, ihren Job zu machen.

Konkret. Wenn sich Personen aus zwei Haushalten – aber nicht aus drei oder vier – miteinander treffen dürfen und diese Regel auch durchgesetzt werden soll, dann machen sich Ordnungskräfte zwangsläufig zu Clowns. Zehn Personen sitzen gemeinsam auf dem grünen Rasen. Auftritt Polizei: „Ihre Personalausweise, bitte.“ Alle kommen bereitwillig der Aufforderung nach. Und erklären sogleich, dass sie in – zwei – WGs leben und mit jeweiligem Erstwohnsitz noch bei den Eltern gemeldet sind. Theorie? Aber nein. Alltag.

Was genau soll die Polizei machen? Die Schultern zucken und sich höflich für die Belästigung entschuldigen? Oder die Daten jedes und jeder Einzelnen genau überprüfen, die da auf der Wiese sitzen? Beides ist lächerlich.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der Sinn genau dieser Regelung erschließt sich mir ohnehin nicht. Wenn ich mit drei anderen Leuten zusammenlebe und wir uns jeden Tag mit genau einer anderen Wohngemeinschaft treffen, die das auch exakt so praktiziert – wir alle uns also sklavisch an die Buchstaben der gerade geltenden Verordnung halten –: warum und inwiefern gefährdet dies die Volksgesundheit weniger, als wenn wir gleich mit 200 oder 400 oder 4.000 Leuten Party machen? Spielen wir da nicht gerade die Weizenkornlegende des Schachbretts nach?

Eine Antwort auf diese Frage werde ich wohl nicht bekommen. Das RKI hält keine regelmäßigen Pressekonferenzen mehr ab. Über die Gründe wird viel spekuliert. Ich glaube, es ist gar nicht so kompliziert. Die Wissenschaftler sind beleidigt. Schlechte Presse mögen sie nicht – wer mag die schon –, und die haben sie zum Teil bekommen. Jetzt reden sie halt nicht mehr mit uns. Manchmal ist die nächstliegende Erklärung auch die zutreffende.

Die Polizei kann nicht die beleidigte Leberwurst geben. Sie muss tun, was immer die Politik ihr aufträgt. Und hat jetzt ein Problem. Sie war ja auch bisher nicht unterbeschäftigt. Morde, Drogenhandel, Geschwindigkeitsübertretungen: Sie hatte zu tun. All das gibt es auch in Coronazeiten. Und jetzt muss sie zusätzlich die Einhaltung komplizierter Regelungen überprüfen, die weder von ihr noch von der Öffentlichkeit genau verstanden werden. Das wird nicht funktionieren.

Und das ist nicht egal. Wenn Gesetze und Verordnungen erlassen werden, über die sich alle lustig machen und die man leicht umgehen kann, verlieren diese das, was in einem demokratischen Staat das Wichtigste ist: das Vertrauen der Mehrheit, dass alles schon irgendwie seine Richtigkeit haben wird.

Eine 89-jährige Bekannte denkt derzeit ernsthaft darüber nach, wie sie eine Person in ihre abgeschottete „Seniorenresidenz“ schmuggeln kann. Ich denke, der Staat hat ein Problem. Ein selbst verschuldetes, mit weitreichenden Folgen.

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

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