Reisen in den eigenen Kopf

Die Berliner Schriftstellerin Harriet Köhler hat eine „Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben“ vorgelegt. Corona verleiht dem Buch mit schönen Lesereisen und spannenden Betrachtungen ungeplante Aktualität

Der öffentliche Raum in Zeiten des Coronavirus Foto: Paul Langrock/Zenit

Eines gleich vorweg: Die Autorin hat das Buch lange vor Corona geschrieben. Dass es jetzt eine fast schon gespenstische Aktualität bekommen hat, ist Zufall. Ein Zufall, der sich auf jeden Fall zu lesen lohnt. Harriet Köhlers „Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben“ ist das passende Buch fürs virusgeschüttelte Volk, auch wenn es kein Patentrezept gegen Lagerkoller und plärrende Kinder ist. Es ist übrigens auch kein feindseliges Buch gegen die Reiselust. Es ist ein Buch für die Entdeckung der eigenen Welt, der Nachbarschaft, des Kiezes, der Natur um die Ecke und der Wolken am Himmel. Es ist ein Buch für die Wertschätzung der Nähe.

Fangen Sie beim Lesen unbedingt mit dem zweiten Teil an. Sonst bekommen Sie womöglich den falschen Eindruck, dass hier eine Öko-Tante dem Planeten den Puls fühlt und Ihnen Ihre rabenschwarze CO2-Bilanz unter die Nase halten will. Dazu wäre zweierlei zu sagen. Erstens: Nichts gegen Öko-Tanten (und -Onkels), wir brauchen sie unbedingt. Zweitens: Die von Köhler im ersten Teil durchdeklinierte verheerende Ökobilanz des Reisezirkus ist nur das kurze Vorspiel zur eigentlichen Aufführung.

Köhlers Buch ist eine freudige Aufforderung zum Ausstieg aus dem Hamsterrad, um zu Hause durchzuatmen und zu entspannen. Längst sind auch Urlaub und Fernreisen, das ständige Irgendwohin-Düsen, nicht nur ökologischer Irrsinn, sondern auch anstrengender Teil unseres Lebens: Reisestress.

Auch der Urlaub, schreibt Köhler, unterliege Verwertungslogik und Optimierungsmodus, weil wir jede Sehenswürdigkeit abklappern, keinen interessanten Abstecher verpassen wollen. Die Autorin beschreibt mit großem Wiedererkennungswert, wie wir uns nach der Rückkehr aus dem Urlaub die Eindrücke schönreden.

Der große Essayist Jürgen Dahl hat schon in den 80er Jahren immer wieder über den „Flüchtlingstreck“ urlaubender Nomaden gespottet: „Dass Immanuel Kant sich sein ganzes Leben nicht aus Königsberg fortbewegt hat, macht ihn in den Augen unserer schnellen Zeitgenossen bedauernswert bis lächerlich, weil sie nicht mitzählen, dass im 18. Jahrhundert in Königsberg zu bleiben weitaus weniger peinigend war als die Zumutung, im 20. Jahrhindert an Düsseldorf gefesselt zu sein.“

Dass man womöglich sogar in Düsseldorf oder Castrop-Rauxel eine neue, ganz andere Welt entdecken kann, obwohl man sich nicht vom Fleck bewegt, das beschreibt Köhler aus eigenem Erleben – immer wieder angereichert mit literarischen, philosophischen, aber auch wissenschaftlichen Einschüben. Sie hat keine Scheu, rutschig klischeebeladene Abhänge zu betreten. Zu Kapitelüberschriften wie „In den Himmel gucken“ oder „Sich nassregnen lassen“ muss man erst einmal die Traute haben. Köhler macht gerade diese beiden Kapitel zu schönen kleinen Lesereisen.

Lieblingspart des Rezensenten: „Nichts tun!“ Das meint Köhler genauso, wie es da steht, auch wenn heute „nichts tun ungefähr so anstößig ist wie Nasepopeln oder Onanieren“. Ein gesunder Leerlauf sei überlebenswichtig, findet sie, einfach nur atmen, verdauen und die irre Welt sich einfach weiter drehen lassen.

Für unsere Großeltern war übrigens die drittbeliebteste Freizeitbeschäftigung: Aus-dem-Fenster-Gucken. Heute undenkbar. Zum Nichtstun gehört natürlich das Abschalten von i-Phone, Computer und anderen Terrormaschinen. Dem Offline-Leben ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Harriet Köhler: Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben. Piper Verlag, München, 208 Seiten, 15,00 Euro

Es ist eine wunderbare Handreichung, die die Berliner Autorin da aufgeschrieben hat – mit Schwung, klugen Gedanken und meditativen Impulsen.

Manfred Kriener