Kontroverse um kulturelle Aneignung: Das Feuilleton darf nicht kneifen

Um Jeanine Cummins Thriller „American Dirt“ ist eine Debatte um kulturelle Aneignung entbrannt. Diese sollte ernst diskutiert werden.

Eine Eisenbahnschiene durch einen Urwald.

Ein langer Weg zur Diskussion: Eisenbahn­strecke an der Route mexikanischer Flüchtlinge Foto: Alessandro Grassani/Agentur Focus

Als zu Beginn des Jahres das erste Strohfeuer der Kontroverse über den Roman „American Dirt“ im deutschsprachigen Feuilleton aufloderte, da war das Buch auf Deutsch noch gar nicht erschienen. Trotzdem erfuhr das Publikum erstaunlich viel zur Autorin Jeanine Cummins und ihren Thriller über die Flucht einer mexikanischen Mutter und ihres kleinen Sohnes vor einem gewalttätigen Kartell.

Gerahmt wurde die Debatte hierzulande vor allem als ein weiterer Fall im Kampf von Kunst gegen Identitätspolitik. In der Süddeutschen Zeitung hieß es: „Weil die Autorin des Romans aber keinen lateinamerikanischen Hintergrund hat, sondern eine weiße Amerikanerin ist, und ihr Buch von einer überwiegend weißen Verlagsbranche für ein überwiegend weißes Publikum in Position gebracht wurde, häuften sich kurz nach Erscheinen des Buches identitätspolitische Einwände.“

Diese Rahmung wurde im Titel des entsprechenden Artikels in der Zeit auf den Punkt gebracht: „Darf sie das?“ Verbunden war dieses Framing der Diskussion als Verbotsdebatte mit einem gewissen Unmut darüber, dass diese Debatte überhaupt existiert. Der Artikel in der Welt, der fast exakt den gleichen Titel trägt („Darf die das“), endet mit den Worten: „Aber warum müssen wir solche Debatten über Literatur überhaupt führen?“

Als „American Dirt“ im April auf Deutsch erschien (Rowohlt, aus dem Amerikanischen von Katharina Naumann, 560 Seiten, 15 Euro), flammte die Kontroverse erneut auf. Die Argumente und die Intensität der Genervtheit haben sich aber kaum verändert. Im Spiegel wurden die streitenden Parteien gar apodiktisch in ein liberales und ein illiberales Lager eingeteilt. Illiberal fand man die Kritik an Cummins offenbar auch beim Focus. Dort wurden die Gründe für die Proteste als „schräg und unfair“ bezeichnet: „Es ist der in den USA gerade sehr gängige Vorwurf der ‚kulturellen Aneignung‘: Wer nicht aus Jamaika stammt, solle keine Dreadlocks tragen; wer nicht aus Japan kommt, keinen Kimono anziehen; und wer kein Flüchtling ist, nicht über Flüchtlinge schreiben.“

Angebliche Absurditäten

Ein angebliches Verbot weißer Dreadlocks wird auch im Spiegel genannt, dazu der Protest gegen Sushi auf dem Speiseplan einer Mensa in den USA. Man hat den Eindruck, dass die Debatte über den Roman sich vor allem in eine inzwischen gut bekannte Fallgeschichte einreiht, die die angeblichen Absurditäten der Political Correctness auf besonders grelle Art veranschaulichen soll. Dabei handelt es sich etwa bei der lieb gewonnenen Geschichte vom Sushi­protest um eine mehr als fragwürdige Legende, wie Adrian Daub letztes Jahr in einem Artikel in der FAS gezeigt hat („Selber Snowflakes!“, FAS 19. 11. 2019).

Aber in der deutschen Diskussion geht es auch nicht um die konkrete Komplexität von Einzelfällen, sondern um die ab­strak­te Simplizität einer Prinzipiendiskussion.

Für solche Grundsatzdiskussionen eignet sich der Skandalimport aus den USA in besonderer Weise, weil die kulturelle und räumliche Distanz zu den skandalisierten Fällen sie zum perfekten Spielmaterial einer Kontroverse macht, in der es von Anfang an darum geht, die Gegenmeinung als absurd zu verabschieden. Dazu gehört auch der leicht entgeisterte Ton vieler Texte aus diesem Umfeld wie etwa in der Zeit, wo ungläubig gefragt wurde: „Kann ich noch tollpatschig zu Rap tanzen, oder verhöhne ich damit die Sklaverei?“

Standardisiertes Sprechen

So entsteht ein standardisiertes Sprechen über das extrem komplexe Problem der kulturellen Aneignung. Die anekdotische Evidenz sehr unterschiedlicher Phänomene (Dreadlocks, Kimonos, Sushi, Tanzen, Literatur) wird zu einem diskursiven Strohmann zusammengestoppelt, den man dann halb entnervt, halb genussvoll erledigen kann. Es entspricht dann fast einer Form von emotionaler Ehrlichkeit, wenn der Kommentar im Stern mit den Worten endet: „Wer ‚American Dirt‘ atemlos durchgelesen hat, möchte den Authentizitätswächtern, noch mit gelesenem Geschmack von Reis, Tortillas und Wüstensand im Mund, zurufen: Selbst wenn es ein Eskimo geschrieben hätte, es hat mich durchgewühlt!“

Egal, wie man sich zu diesen Themen positioniert, sie haben es verdient,

ernst genommen zu werden

Die Aufzählung und Vermischung angeblicher kultureller Verbote im Dienst der immergleichen Diskussion darüber, was man heute überhaupt noch darf, bezeichnen einen unbefriedigenden Status der intellektuellen Auseinandersetzung über die wichtigen Fragen nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik. Allein die Tatsache, dass über dieses Verhältnis erbittert gestritten wird, zeigt seine gesellschaftliche Relevanz. Egal, wie man sich zu diesen Themen positioniert, sie haben es verdient, ernst genommen zu werden: als ein gesellschaftliches Bedürfnis nach theoretischer Reflexion. Literaturwissenschaft und Feuilleton sind aufgerufen, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Eine solche Debatte müsste damit beginnen, dass sich alle Beteiligten eingestehen, dass es sich um extrem komplexe Probleme handelt – Probleme, die vor allem faszinierende und produktive intellektuelle Rätsel darstellen. Was der Debatte unter anderem fehlt, ist eine gewisse Dankbarkeit darüber, dass die Gegenwart noch immer über solche literaturtheoretischen Zankäpfel verfügt.

Ein produktiv rätselhafter Umstand wäre zum Beispiel, dass die Frage nach der ästhetischen Qualität auch die ethische Einschätzung eines Textes zu beeinflussen scheint. Die Kritiken aus den USA, die jetzt als Beispiele für einen antiliterarischen Tugendrigorismus genannt werden, waren ja akribisch und boshaft auf die ästhetischen Probleme von „American Dirt“ ausgerichtet.

Ethik und Ästhetik

Und auch in der deutschen Diskussion wurde die Qualität des Buches thematisiert, hier aber vor allem zur Verteidigung des Buches. Das gilt nicht nur für den Kritiker des Stern, der sich das Gefühl, von der Erzählung „durchwühlt“ worden zu sein, nicht nehmen lassen möchte, sondern auch für den Autor der Welt, der die Prosa in „American Dirt“ als „makellos“ bezeichnete.

Lässt sich aus dieser eigentümlichen Vermischung ästhetischer und ethischer Urteile ableiten, dass künstlerische Hochwertigkeit möglicherweise Transgressionen anderer Art kompensieren kann? Wäre die kulturelle Aneignung von Cummins als weniger skandalös wahrgenommen worden, wenn sie ein besseres Buch geschrieben hätte? Vielleicht hat man es gar nicht mit einer Darf-sie-das-Debatte zu tun, sondern mit einer eine Kann-sie-das-Debatte.

Das führt zu der nächsten großen theoretischen Herausforderung: Was bedeutet Ästhetik überhaupt? Man hat zuweilen den Eindruck, das, was als moralischer Anspruch einer angeblichen Political Correctness die Kunst bedroht, sei extrem überbestimmt; wohingegen das, was mit Kunst gemeint sein könnte, ziemlich vage erscheint.

Man sollte die Kontroversen über den angeblichen Gegensatz von Kunst und Moral nutzen, um die Verwobenheit dieser beiden Konstrukte neu zu untersuchen. Ethisches und ästhetisches Versagen liegen näher beieinander, als man denkt. Es gehört ja auch zum täglichen Brot der Literaturkritik, Klischees anzuprangern, das heißt aber auch, den Text an einer Realität zu messen, die er darstellen möchte.

Konventioneller Thriller

Allerdings ist nicht jede Form von Literatur in gleicher Weise dazu verpflichtet, Klischees zu vermeiden. Hier verbindet sich die Frage nach dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik mit der Frage nach dem Genre. Die Prosa von „American Dirt“ ist natürlich nicht „makellos“, sondern wenn überhaupt routiniert. Es handelt sich um einen kompetent erzählten konventionellen Thriller, mit durch die Luft pfeifenden Patronen und sinister Hühnchen schmatzenden Bösewichten. Das an sich ist – wie die Beliebtheit des Genres zeigt – offenbar kein Problem.

Es wäre aber die Aufgabe einer ethischen Gattungsreflexion herauszufinden, bei welchen Themen es erlaubt ist, daraus einen Thriller zu machen, und bei welchen das zu öffentlicher Empörung führen wird. Daran wiederum lassen sich eine ganze Anzahl an literatursoziologischen Fragen anschließen: Wer profitiert finanziell? Wie steuern die Institutionen des literarischen Lebens den Zugang zur Sichtbarkeit? Inwiefern wird Identität als Ressource im Dienste der Autorinszenierung eingesetzt?

All diese Fragen, die im Bereich der Literatur zu den wichtigsten unserer Zeit gehören, werden allerdings nicht dadurch beantwortet, indem man genervt abwinkt oder die immer gleichen Argumente und Fälle wiederholt. Was die Debatte braucht, ist mehr Ratlosigkeit und weniger Sicherheit, mehr Neugier und weniger Aggressivität.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.