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So funktioniert Libyens Krieg

Eine Regierung ohne Macht. Ein Militärchef ohne Regierung. Ein Parlament ohne Funktion. Eine Hauptstadt ohne Frieden. Ein Milizenwirrwarr ohne Gemeinsinn. Aber alle haben Zugriff auf das Ölgeld. Ein Who‘s who des Dauerkriegsschauplatzes LibyenVonMirco Keilberth,Tunis

Machtlos:Die Regierung

Die international anerkannte Regierung Libyens sitzt in der Hauptstadt Tripolis. Seit dem 30. März 2016 führt Premierminister Fajis Sarradsch die „Regierung der Nationalen Einheit“ (Goverment of National Accord – GNA), die 2015 auf einer Friedenskonferenz im marokkanischen Shkirat unter der Leitung des deutschen UN-Sonderbeauftragten Martin Kobler vereinbart worden war. Sie sollte Libyen befrieden, das nach dem blutigen Sturz von Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi 2011 nicht zur Ruhe gefunden hatte.

Doch auf Sarradschs’ Ankunft auf der Marinebasis Abu Sitta im Hafen von Tripolis zur Amtsübernahme folgte ein wochenlanger Krieg zwischen den bewaffneten Gruppen in Tripolis. Und das 2014 gewählte Parlament, das laut Abkommen Sarradsch im Amt bestätigen sollte – war längst nach Ostlibyen geflohen und dieser stellte sich nie den Parlamentariern persönlich. Diese lehnen auch den in Tripolis tagenden Nationalkongress ab, ein Parallelparlament.

Der aus einer Diplomatenfamilie stammende Sarradsch gilt als persönlich integer, aber abhängig vom Milizenkartell der libyschen Hauptstadt. Verhandlungen mit seinem Gegenspieler Chalifa Haftar lehnt der 60-Jährige ab. Mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan schloss er im November 2019 ein militärisches Beistandsabkommen. Im Gegenzug gewährte er der Türkei Rechte zur Förderung von Öl und Gas vor der ostlibyschen Küste. Türkische Fregatten und Drohnen verhalfen den sarradschtreuen Gruppen zuletzt zum Sieg gegen Haftars Verbündete in den westlibyschen Küstenorten, von denen aus seit Jahren die Flüchtlingsboote Richtung Europa aufbrechen. Damit hat die Türkei nun auch großen Einfluss auf die südliche Migrationsroute nach Europa.

Umkämpft: Tripolis

Die Zwei-Millionen-Metropole Tripolis ist nach dem Sturz der Gaddafi-Diktatur 2011 nie zur Ruhe gekommen. Die in Stadtteilen organisierten Bürgerwehren verschwanden bereits nach wenigen Wochen, als die meisten Libyer wieder in ihre Jobs und den Alltag zurückkehrten, doch danach patrouillierten zeitweise über 100 bewaffnete Gruppierungen durch die Straßen. Sie wurden im Laufe jahrelanger Machtkämpfe entweder vertrieben oder zerschlagen oder in größere Milizen integriert.

Heute wird Tripolis von vier großen Milizen beherrscht: „Nawasi“, die „Revolutionären Wächter von Tripolis“, „Gneiwa“ und „Rada“. Die vier Milizen etablierten ihre Macht im Sommer 2014, als sie die ehemaligen Revolutionäre aus der Stadt Zintan vom internationalen Flughafen von Tripolis vertrieben. Die seit 2016 amtierende Serraj-Regierung agiert unter dem Schutz dieser Milizen und steht faktisch unter deren Kontrolle. Innenminister Bashaga versucht, die bewaffneten Gruppen während des Kampfes gegen Haftar in den staatlichen Sicherheitsaparat zu integrieren.

Seit April 2019 führt Haftars LNA eine Offensive auf Tripolis, die auch mit Raketenangriffen einhergeht. Die Kämpfe haben mehrere hundert Zivilisten getötet und 200.000 in die Flucht getrieben.

Eigensinnig: Misrata

Die Küstenstadt Misrata hält im libyschen Konflikt eine Sonderstellung. Sie wurde während des Aufstandes gegen Gaddafi von dessen Truppen drei

Monate lang belagert und bombardiert. Erst mit Hilfe von mit Fischerbooten gelieferten Waffen aus dem bereits befreiten Bengasi konnte der Angriff zurückgeschlagen werden.

Über 200 Milizen tummelten sich in der Stadt nach Ende des Krieges. Sie gelten als besonders radikal, was das Verhältnis zu ehemaligen Gaddafi-Anhängern angeht. Die öffentliche Zurschaustellung der Leiche Gaddafis im Kühlraum einer Schlachterei von Misrata nach seiner Tötung in Sirte im Oktober 2011 und die Inhaftierung mehrerer Tausend seiner Anhänger ohne Gerichtsverfahren brachte der 500.000-Einwohnerstadt den Hass vieler anderer Stämme und Städte ein.

Milizen aus Misrata vertrieben den „Islamischen Staat“ (IS) aus Sirte und übten zeitweise auch im 200 Kilometer entfernten Tripolis erhebliche Macht aus. Mit dem Einzug der Einheitsregierung mussten sie die Hauptstadt dem dortigen Milizenkartell überlassen. Doch seit Haftars Truppen Tripolis belagern, stellt Misrata die Mehrzahl der Verteidiger der Hauptstadt und mit Innenminister Fathi Baschagha einen möglichen Nachfolger für Sarradsch im Amt des Premierministers. Baschagha versucht, die Hauptstadtmilizen in eine neue Armee und Polizei zu integrieren. Nach einem möglichen Ende der Kämpfe mit Haftar rechnen Beobachter in Tripolis mit einem Machtkampf zwischen Misrata- und Tripolis-Milizen.

Ratlos: Das Parlament

Das libysche „Repräsentantenhaus“ wurde bei den zweiten Parlamentswahlen Libyens nach dem Ende der Diktatur im Frühjahr 2014 gewählt. Wegen der schlechten Sicherheitslage und der Milizenherrschaft gingen nur 18 Prozent der Wähler 2014 an die Urnen, die UN-Libyen-Mission beurteilte die Abstimmung dennoch als frei und fair.

Das Parlament tagt nicht in der Hauptstadt Tripolis, sondern im ostlibyschen Tobruk. Die 200 Parlamentarier entschieden sich für diesen Sitzungsort nahe der ägyptischen Grenze wegen persönlicher Drohungen durch Islamisten in Tripolis, die aus der Wahl als Verlierer hervorgegangen waren. Ihr Mandat, eigentlich längst abgelaufen, wurde aufgrund des Friedensprozesses immer wieder verlängert.

Die Repräsentanten haben die Regierung Sarradsch in Tripolis nie bestätigt, obwohl es der Friedensprozess vorsah. Aus einem Parlamentsbeschluss entstand stattdessen die Libysche Nationalarmee (LNA) unter General Haftar, der aus Ostlibyen heraus die Milizen in Tripolis und Misrata bekämpft.

Inzwischen haben sich Haftar und das Parlament entzweit. Parlamentspräsident Aguila Saleh tritt für einen innerlibyschen Dialog ein, aber Haftar lehnt das ab und will selbst die Macht ergreifen.

Ehrgeizig: Haftar

Chalifa Haftar, Anführer der LNA (Libysche Nationalarmee), hat eine lange Karriere hinter sich. Der 76-Jährige führte unter Gaddafi als General die libysche Armee im Tschad, wurde gefangengenommen, in die USAexfiltriert und lebte bis zur libyschen Revolution 2011 im Exil in Langley in den USA. Dann stieß er zu den Aufständischen gegen Gaddafi in Ostlibyen.

Haftar und andere ehemalige Offiziere akzeptierten nach Gaddafis Sturz nicht, dass islamistische Milizen an Einfluss gewannen. Mit der Operation Würde startete eine Gruppe um Haftar nach den Wahlen 2014 die Rückeroberung von Libyens zweitgrößter Stadt Bengasi. Dann ließ sich Haftar vom nach Tobruk geflohenen libyschen Parlament als Armeechef bestätigen und wollte den Krieg nach Tripolis tragen.

Im April 2019 blies Haftar zur Offensive auf die libysche Hauptstadt. Doch viele seiner Soldaten waren dazu nicht bereit. Er setzt auf Söldner aus Sudan, Tschad und neuerdings auch regierungstreuen Gebieten in Syrien. Russische Experten bedienen die aus dem Vereinigten Arabischen Emiraten gelieferten Drohnen und Artillerie, während französische Spezialkommandos im LNA-Gebiet Islamisten aufspüren.

In einem Jahr Krieg um Tripolis konnte die LNA von Süden her nur wenige hundert Meter Richtung Innenstadt vordringen. Sie enthält viele ehemalige Gaddafi-Anhänger, die ihren Frust über den Machtverlust 2011mit Bombardierung von Wohnvierteln rächen wollen. Haftars Ruf als Ordnungsfaktor hat dadurch gelitten und er hat eine Reihe von Niederlage kassiert, doch kontrolliert er weite Teile Libyens und die Mehrzahl der Ölquellen. Jetzt will er in Ostlibyen das Parlament absetzen und selbst die gesamte Macht ergreifen.

Mit Atemschutzmaske in den Milizenkrieg

Nichts hat Libyen bislang dem Frieden näher gebracht, auch nicht ein UN-Aufruf zur Waffenruhe angesichts der Coronapandemie. Doch es gibt noch Hoffnung

Von Karim El-Gawhary, Kairo

Libyen war schon immer speziell. Während sich ein guter Teil der Welt in die Selbstisolation begeben hat, hat sich der Krieg dort in den letzten Wochen intensiviert. „Wir haben in Libyen eine absolut verrückte Situation“, sagt Tom Garofalo, der das Libyen-Büro der Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) leitet. „Die Kämpfer der verschiedenen Milizen tragen Gesichtsmasken, um sich vor dem Virus zu schützen, während sie gleichzeitig aufeinander schießen.“

Mehr als 150.000 Menschen in Tripolis mussten zuletzt an andere Orte rund um die Hauptstadt fliehen, schildert Garofalo. Nachdem der abtrünnige General Chalifa Haftar, der Herrscher im Osten des Landes, im April letzten Jahres seine Tripolis-Offensive begonnen hat, befinden sich nun seine Gegner, die Milizen der von den UN anerkannten Regierung in Tripolis, auf dem Vormarsch. Sie vertreiben Haftars Truppen aus strategisch wichtigen Orten rund um Tripolis; der antwortet damit, dass er die Stadt bombardieren lässt.

Der Aufruf von UN-Generalsekretär António Guterres, wegen der Coronakrise die Waffen weltweit schweigen zu lassen, stößt in Libyen bisher auf taube Ohren. Vergangene Woche erklärte Haftar endgültig ein UN-Abkommen für nichtig, in dem beide Kriegsparteien 2015 beschlossen hatten, sich die Macht aufzuteilen. De facto war dieses Abkommen allerdings sowieso hinfällig, da beide Seiten alle Karten daraufsetzten, ihren Konflikt militärisch zu lösen. Auch eine internationale Libyenkonferenz in Berlin im Januar dieses Jahres konnte das Blutvergießen nicht beenden.

Dass in Tripolis sogar Krankenhäuser bombardiert wurden, sei keine gute Voraussetzung, um eine Pandemie einzudämmen, meint Garofalo vom IRC. Zusammen mit dem libyschen Gesundheitsministerium und der WHO versucht er, einen Plan zu erstellen, wie das Land der Pandemie begegnen kann. Das IRC hilft beim Testen und Nachverfolgen von Infektionsketten. „Das ist aber schwierig, wenn es gefährlich ist, sich zu bewegen und wenn Krankenhäuser angegriffen werden.“

Bisher gibt es in Libyen offiziellen Angaben zufolge nur 63 Fälle und drei Covid-19-Tote, doch die Dunkelziffer dürfte viel höher sein. Besonders gefährdet sind die 700.000 Migranten und Flüchtlinge im Land, von denen nach UN-Angaben 80 Prozent überhaupt keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. „Tausende leben unter furchtbaren Umständen in Haftzentren, in engsten Verhältnissen, ohne ausreichend Nahrungsmittel und ohne Möglichkeit sich zu isolieren“, beschreibt Garofalo.

Doch es gibt auch Hoffnung in Coronazeiten: Einige staatliche Institutionen dienen weiter beiden Seiten des Landes. Das Gesundheitsministerium und vor allem dessen für die Pandemie zuständiges Zentrum für Krankheitskontrolle ist immer noch eine gemeinsame Institution beider Regierungen in Libyen. „Dort werden die Tests in beiden Teilen des Landes koordiniert. Dort kooperieren die medizinischen Kollegen im West- und im Ostteil“, schildert Garofalo. „Das Gesundheitsministerium könnte eine wichtige Rolle spielen, das Land später wieder zusammenzubringen“, hofft er.

Vielleicht ist es dieses Paradox, mit dem man die Lage in Libyen am besten beschreiben kann. Es gibt immer noch staatliche Institutionen mit Technokraten und Beamten, die allen Seiten Dienste leisten und das Virus einzudämmen suchen, während Milizionäre aus Angst vor dem Virus zwar Gesichtsmasken tragen, sich gleichzeitig aber gegenseitig nach dem Leben trachten.