Folgekosten für die Seele

Ilse Wehrmann warnt vor möglichen Spätfolgen des Kita-Shutdowns bei Kindern: In der Diskussion um die Öffnung von Einrichtungen werde die soziale Komponente vernachlässigt, warnt die Fachfrau

„Seitens der Mediziner fehlen Belege, dass Kinder besonders ansteckend sind“

Ilse Wehrmann, Expertin für frühkindliche Bildung

Aus Sicht der Bremer Vorschulexpertin Ilse Wehrmann ist die fortgesetzte weitgehende Schließung von Kindertagesstätten und Grundschulen aus Gründen des Kinderschutzes und der Bildungsgerechtigkeit unverantwortlich. Gefragt seien kreative Konzepte für einen schrittweisen Wiedereinstieg in den Normalbetrieb, um mit begrenzten Ressourcen umzugehen, forderte Wehrmann am Montag in einem Positionspapier. „Kinder brauchen Kinder“, sagte die Expertin und Politikberaterin dem Evangelischen Pressedienst (epd).

„Seitens der Mediziner fehlen bislang verlässliche Belege dafür, dass kleine Kinder besonders ansteckend und Kitas reine Virenschleudern sind“, sagte Wehrmann. Sie plädierte dafür, wieder allen Kindern den Zugang zur Kita zu ermöglichen. „Stufenweise natürlich, zunächst an einzelnen Tagen vielleicht, in kleinen Gruppen, vor- und nachmittags im Wechsel. Wichtig ist, dass alle wieder in die Normalität kommen, dass Kinder wieder unter Kindern sind“, betonte sie im Gespräch mit dem epd. Umstellungsbedingte Engpässe könnten überwunden werden.

So sei es beispielsweise unerlässlich, dass fünf- und sechsjährige Kinder vor ihrer Einschulung noch einmal ihre Kita besuchten. Wehrmann: „Wir müssen ihnen vor dieser wichtigen Umbruchsituation in ihrem Leben in einem Abschiedsritual der Einrichtung, die ihnen so vertraut ist, Lebewohl sagen.“

Auch benötigten alle Kinder nach der bereits langen Abstinenz von der Kita eine neue Eingewöhnungsphase. Das gelte auch, weil sie nicht begreifen und nachvollziehen könnten, wie es zu dieser Kontaktsperre gekommen und warum sie notwendig gewesen sei.

Im Zusammenhang mit der Coronakrise im Elementarbereich sollte Wehrmann zufolge nicht der Bildungsgedanke in der kindlichen Entwicklung die zentrale Rolle spielen, sondern der soziale Gedanke. „Andernfalls besteht die Gefahr, dass die durch das Coronavirus bedingte Isolierung der Kinder im Vorschulalter Spätfolgen nach sich ziehen könnte.“

Die Lage der Kinder und der Familien in der Coronakrise spiele im politischen Raum nur eine untergeordnete Rolle, kritisierte Wehrmann. „Bis zum Sommer die Kitas nur mit erweiterter Notbetreuung zu führen, das bedeutet unerträgliche Folgekosten – seelisch und wirtschaftlich“, warnte die promovierte Frühpädagogin. Auch habe sie die Sorge, dass die Corona-Krise alte Rollenbilder stärke „nämlich, dass junge Mütter zu Hause bleiben sollen“. (epd/taz)