Digitale Festival­atmo­sphäre

Erste erfolgreiche Reise
zum rein virtuell stattfindenden Dokumentarfilmfestival
„Visions du Réel“ in Nyon am Genfer See

Die von der iranischen Dokumentaristin Afsaneh Salari filmisch begleitete Familie, die aus Afghanistan in den Iran eingewandert ist Foto: Visions du Réel

Von Silvia Hallensleben

Mittlerweile ist die Sichtung von Filmen in sogenannten Screenern in der Filmkritik gang und gäbe, von vielen „kleineren“ Filmen gibt es gar keine regulären Pressevorstellungen im Kino mehr. In der Corona-Not stellten auch einige Verleiher – neben den Autokinos – ihre Filmstarts auf Onlinestreaming um. Und nun reise ich zu meinem ersten rein virtuell stattfindenden Festival als Berichterstatterin. Es sind die „Visions du Réel“, ein traditionsreiches und für die Dokumentarfilm-Branche bedeutsames Treffen, das 1969 von Moritz de Hadeln in dem hübschen Städtchen Nyon am Genfer See gegründet wurde und dieses Jahr vom 24. April bis 2. Mai programmiert war.

Dann kam Corona – und nach dem Verbot von Großveranstaltung auch in der Schweiz entschied sich das Festivalteam um die künstlerische Leiterin Emilie Bujès trotz der doch sehr kurzen Frist bis zum Start statt einer Absage für den Onlineauftritt des gesamten Festivals.

So wurden die Filme der diversen Wettbewerbe und Informationsreihen gestreamt, Gesprächsforen und Industrie-Meetings waren als Videokonferenz zu sehen, darunter Masterclasses mit Claire Denis, der brasilianischen Dokumentaristin Petra Costa und dem schweizerisch-kanadischen Naturfilmer Peter Mettler.

Ein enormer organisatorischer, rechtlicher und technischer Aufwand, der nur mit Hilfe hochspezialisierter Firmen und Personen gestemmt werden konnte und – jedenfalls nach außen – erstaunlich reibungslos klappte. Dabei war es sicherlich dem Zeitdruck geschuldet, dass Präsentation und Filmzugang etwas unübersichtlich und oft wenig benutzerfreundlich geraten waren und längeres Herumirren provozieren konnten. Und die Idee, durch die künstliche Begrenzung des Zugangs zu den Filmen auf jeweils 500 virtuelle Sichtungsplätze digitales Gedränge und Festivalatmosphäre zu schaffen, kann wenig überzeugen. Andererseits ist es verständlich, dass die Rechte­inhaber der Filme den Zugriff auf ihre Schätze unter Kontrolle behalten möchten.

Als Presseakkreditierte habe ich das Privileg, bis und sogar nach Festivalende nach Lust und Laune auch in den zahlreichen „ausverkauften“ Filmen in der Media Library stöbern zu dürfen. Ein besonderes Fundstück im Langfilm-Wettbewerb dabei der neue Film des Schweizer Filmemachers Thomas Imbach, der in Sujet wie Sichtweise wie maßgeschneidert zur aktuellen Weltkonstellation aus notgedrungen distanziertem Blick, Sicherheit und Überwachungsdenken passt. Dabei knüpft „Nemesis“ an Imbachs neun Jahre alte Arbeit „Day Is Done“ an, die Tonschnipsel eines Anrufbeantworters mit der beeindruckenden Totale aus Imbachs Studiofenster über den benachbarten Güterbahnhof in den Züricher Himmel verknüpfte.

Jetzt sehen wir den Abriss dieses Bahnhofs und, nach einer langen Zwischennutzungsperiode, den Bau eines modernen Hochsicherheitsknasts auf dem Gelände. Dazu eingesprochene Zitate aus Berichten von Abschiebehäftlingen in Schweizer Gefängnissen.

Sechseinhalb Jahre hat Imbach gedreht, lange muss das Team an der Montage, den Zeitraffern und dem Sounddesign gearbeitet haben, bis sich aus dem voyeuristischen Blick auf das eng begrenzte Terrain beeindruckend vielschichtige Reflexionsebenen entwickeln, die oft mit tatiesker Komik brillieren.

Der enorme organisatorische, rechtliche und technische Auf­wand war nur mit Hilfe hochspeziali­sierter Firmen zu stemmen

Imbach hatte auf 35 mm gedreht. Herrlich verwaschen dagegen die Optik in „Unusual Summer“ des in Berlin lebenden Filmemachers Kamal Aljafari, der die im Nachlass gefundenen Bilder aus der Überwachungskamera seines Vaters auf den kleinen Privatparkplatz vor dessen Haus im israelischen Ramla mit eingeblendeten Wortsentenzen, Interferenzen und Rhythmisierungen poetisiert: „Life must be disrupted before it can be revealed“. Sein Film zeigt aber auch deutlich, dass die Skepsis gegenüber dem Sichten von Filmen auf dem heimischen Screen ihre Berechtigung hat, denn besonders bei manchen sehr lichtarmen Einstellungen können wir die ästhetischen Intentionen nur ahnen.

Das Festival in Nyon ist stolz, dass 45 Prozent der gezeigten Filme von Filmemacherinnen kommen, davon allerdings nur fünf der vierzehn Filme im Langfilm-Wettbewerb. Besonders stark dabei „The Silhouettes“ der iranischen Regisseurin Afsaneh Salari, die hier ebenso formal zurückgenommen wie dicht von einer Familie erzählt, die schon vor dreißig Jahren aus Afghanistan nach Teheran emigriert war, dort aber bisher nicht angekommen ist. Das liegt an den Abstoßungen der Fremdem wenig zugeneigten iranischen Gesellschaft, aber auch an dem Wunsch der jungen zweiten Generation von Einwanderern nach Teilnahme und klarer Zugehörigkeit. Ein Film, der auf unaufdringliche Weise den Blick auf die große Welt jenseits unserer engen Befindlichkeiten richtet und hoffentlich in Nach-Corona-Zeiten noch ein großes Publikum finden wird.

Die bei den „Visions du Réel“ vergebenen Auszeichnungen können hier leider keine Erwähnung finden, weil die Preisverleihung unerwartet auf den Tag nach dem angekündigten Festivalende verlegt wurde.