Widerstandskämpfer und Dichterin: Das Geschlecht der Helden

Jean-Pierre Voidies war als Widerstandskämpfer nach Neuengamme deportiert worden. Überlebt hat sie, weil sie sich als Frau wusste – und dichtete.

Ovida Delect steht vor der Kathedrale Notre Dame de Paris und rezitiert eines ihrer Gedichte

Erst ab 1984 traut sich Ovida Delect ihren Traum zu leben: Ein Film hat es dokumentiert Foto: Françoise Romand

BREMEN taz | Wie Jean-Pierre Voi­dies die Todesmärsche überstanden hat? Dafür waren zwei Dinge wichtig: Das eine war, im Kopf Lyrik zu komponieren, um sie später, wenn alles vorbei sein würde und es Papier geben würde und Stifte, niederzuschreiben. Und: Schon damals, im Frühjahr 1944, geschnappt und verschleppt nach Neuengamme, wusste Jean-Pierre Voidies, dass sie eine Frau ist.

„Tatsächlich war die Anomalie – also Abweichung von der Norm –, die meinen Fall ausmachte, auch die Wurzel eines ganzen Universums im Inneren, das mir ermöglichte, zu überleben“, schreibt sie unter ihrem Autorinnennamen Ovida Delect 1994, zwei Jahre vor ihrem Tod. „Les cheveaux de frise couraient sur l’hippodrome“ heißen ihre Jugend-Erinnerungen, „Das Derby der Spanischen Reiter“ wäre vielleicht eine angemessene Übersetzung, die es noch nicht gibt.

In dem Buch schildert sie, wie sie sich, im Lager, in Frauenkleider träumt, in rauschende Roben, parfümiert und elegant, „während ich in gestreiftem Anzug als Teil einer Herde Durchnummerierter nah einer Hansestadt marschierte, im Visier der Wachtürme“. Es ist schwer, sich einen mutigeren Menschen vorzustellen als Ovida Delect.

Dennoch: Erst ab 1981, mit 55 Jahren, wird sie sich trauen, diesen Traum zu leben, der ihr das Leben gerettet hat. Einen bezaubernden Film – es ist einer der erste Dokumentarfilme überhaupt, in denen eine Transperson ihr Leben erzählt – hat Mitte der 1980er-Jahre Françoise Romand über sie gedreht.

Den Dorfpfaffen geniert's

Ein echtes Porträt eines Menschen mit Ecken, Kanten, und auch Härten, etwa für den Sohn, der mit dem Geschlechtswechsel klarkommen muss, aber es nicht kann. Als „wonderfully oddball“, also herrlich schrullig, hat Vincent Canby in der New York Times „Appelez-moi Madame“ seinerzeit beurteilt, aber als niemals lächerlich, sondern eindrucksvoll unbeirrbar. Ovida Delect ist eine Frau gewesen, die ihre Würde gegen alle Anfechtungen zu wahren verstanden hat.

Sie lebte damals in einem kleinen Ort in der Normandie, und die BewohnerInnen fanden den sozialen Geschlechtswechsel komisch, aber okay, und am Veteranendenkmal ist sie es, die zum Nationalfeiertag eine Rede hält. Nur den Dorfpfaffen, den Romand befragt, geniert das alles ganz furchtbar.

Sichtlich schwül wird es ihm unter der Soutane, wenn er sich vorstellt, was zwischen den Eheleuten Jean-Pierre und Huguette Voidies „passiert, wenn sie im Schlafzimmer sind“, sagt er, „wie sie sich delektieren“, kleines Wortspiel muss sein, schließlich komme der Künstlername ja daher, „hihi, Delect, c’est bien ce que ça veut dire...“. Dann gickelt er noch ein wenig und guckt verschmitzt.

„Ich bin ein lebender Leichnam, der für Leichenberge steht“, hat sie, nach ihrer Befreiung, ihre literarische Rolle bestimmt. Am 23. Februar 1944 ist Voidies in Caen den Nazis in die Hände gefallen, ein halbes Kind noch, keine 18, und Schüler an einem katholischen Gymnasium: Die Mutter muss sehr religiös gewesen sein. Schon dem Mädchen im Jungenkörper ist klar, dass da „weder Furcht noch Gesetz, noch Wille dröhnt vom Sinai“, wie es in einem frühen Gedicht heißt.

Voidies Berufswunsch bleibt trotzdem Priester – wegen der Röcke und Talare. Deportiert wird Voidies, „weil er eine Widerstandgruppe an seinem Gymnasium organisiert hat“, erläutert Christian Römmer, Archivleiter der Gedenkstätte Neuengamme. Und weil er nach der Festnahme behauptet hat, Einzeltäter gewesen zu sein.

Man glaubt ihm das nicht. Er wird nach seinem Chef befragt, bleibt bei seiner Version. Das Verhör wird peinlicher: „Man stößt mich vorwärts, vor einen Typen mit wichtigtuerischem Gesichtsausdruck“, schildert er die Situation. „C’est un Français. C’est un Normand. C’est un gestapache“ – das Porte-manteau-Wort verbindet das deutsche Gestapo und den Slang-Ausdruck Apache, der damals in Frankreich so viel wie Abschaum bedeutet.

Entwendete Aktentasche

Voidies war bei einem heimlichen Besuch in der Regionalzen­trale des Rassemblement National Populaire (RNP) beobachtet worden. Deren Leiter: Marcel Déat, ein 100-prozentiger Nazi. Déat hatte erst fürs Kollaborationsregime von Maréchal Pétain gearbeitet, aber das war ihm nicht hitlertreu genug gewesen. Also war er in den deutsch besetzten Norden gegangen. Voidies war es gelungen, die Aktentasche des RNP-Führers zu entwenden. Darin: wichtige Unterlagen, Mitgliederlisten, der offizielle Stempel der Fascho-Organisation und mehrere scheinbar von Déat handsignierte Schreiben.

Die Schreiben waren nicht echt, aber echt genug, um die Lokalzeitung dazu zu bringen, die Falschmeldung von einer Absage der „Jud Süß“-Vorführung im Kino Eden zu verbreiten. Genug, um die Presse eine Trauerfeier ausrufen zu lassen für NS-nahe Honoratioren, also „en l’honneur de deux traîtres bien vivants“ – wie Delect später schreiben wird, zu Ehren zweier quicklebendiger Verräter. Auch werden RNP-Mitgliedern unfreundliche Briefe geschickt, Unterzeichner: „Die Widerstandsbewegung“. Panik greift um sich. Das Parteibüro wird eine Weile geschlossen.

Aber schließlich klingelt „la sicherheitsdienst“ dann doch bei Familie Voidies. Vom Abendbrottisch wird der Junge abgeführt. Schweigt. Wird auf den Tisch gelegt, gepeitscht, mit Ochsenziemern, „einer rechts, einer links“, 18 Tage lang, sagt nix: „Ich schreie, ich kann nur schreien“, wegen dieses Schmerzes, unbekannt bis dahin, brennend, betäubend, wiederkehrend, „Ich schreie formlos, schrill: Das beruhigt mich: Während ich schreie, rede ich nicht.“

Einbruch des Grauens

Viele dichten in der Not, aus der Not heraus, um sie auszudrücken, sie zu bearbeiten, therapeutisch. Aber Voidies/Delect ist eine echte Dichterin, sehr produktiv. Großpoet Paul Éluard wird das Werk anfangs fördern, gleich nach dem Krieg, bei öffentlichen Auftritten rezitiert er auf großer Bühne in Paris das „Gedicht von den neuen Zeiten“: „Nous arrachons la Terre à ceux qui la piétinent“, „Wir entreißen die Erde denen, die sie mit Füßen treten“, das blecherne rhetorische Pathos war ziemlich in Mode im Nachkriegsfrankreich, Voidies ist da kein Sonderfall. Für Stalin kann er sich fast so begeistern wie es Pablo Picasso damals tut. Und die Sowjetunion feiert er 1949 als ein Ideal im Band „Buffalo“.

Sein Œuvre erscheint damals noch beim wichtigen Verlag Pierre Seghers, aber dann fängt Voidies an, literarisch für die Rechte von Schwulen, Lesben und auch noch Transpersonen einzutreten. Und das geht natürlich nicht: Ab Mitte der 1950er erscheinen ihre Bücher, über 40 werden es am Ende sein, in Kleinstverlagen, obskur, in Mini-Auflage, auch antiquarisch kaum noch zu bekommen.

Der Ton von Delects Lyrik ist hymnisch, eine Feier des Lebens, eine große Umarmung; bevorzugte Satzzeichen sind öffnende Klammern. Schließende fehlen. „Il y en a que j’aime tant“ lautet der Titel eines großen Zyklus aus den 1970ern, also „Manche gibt’s, die lieb’ ich so“. Und das könnte ins Süßliche abgleiten, aber dann bricht das Grauen doch ein in „Die ach!, so schönen Sphären“: Sie „wurden Tropfen ranzigen Bluts / an zerkauten Enden siffiger Stifte / in der Geschäftsstelle der Ewigkeit / des totalen Leichenhauses.“ Die Geschäftsstelle der Ewigkeit – was für ein starkes Bild einer sich durchbürokratisierenden Welt. Das Pathos klingt in der Übersetzung vielleicht ein bisschen drüber, im Französischen funktioniert es aber sehr gut.

Dichten ohne Papier und Stift

Gedichtet hat Voidies/Delect im KZ ohne Papier und ohne Stift, im Kopf bewahrt sie die Zeilen auf. In manchen birst die Form am Erlebten: Da ist das Poem „Wagon“, das die nächtliche Deportation in plombierten Güterzügen aus Frankreich in eine Stimmenvielfalt übersetzt, innere Monologe, Schreie, Fragen, Worte, manche deutsch, wiederholt, bis ihr Sinn sich im Rattern der Eisenbahn aufgelöst hat: In „Appelez-moi Madame“ rezitiert sie es.

Rau, gebrochen klingt ihre Stimme, ein besonderes Wagnis für Transpersonen, fast immer, aber in diesem Sprechen lebt der Schrecken fort, so wirkt es, und das ist ergreifend. Manche der KZ-Gedichte sind von einer beängstigenden analytischen Klarheit. Ihr Thema ist nicht so sehr das Überleben, sondern wie das Böse das Böse weckt in den Menschen, wie Hungernde einander den Löffel klauen und den Blechnapf. Die Qualen sind eine Schule des Hasses.

„Oppressés, compressés“ heißt es in einem titellosen Gedicht, das nach einem Marsch barfuß übers vereiste Land entstanden ist, im Januar 1945, wahrscheinlich bei Meppen, wo sie seit Herbst 1944 im Außenlager Versen einsaß: „Unterdrückt, zusammengedrückt, / erbosen sich die Häftlinge / des rasselnden Hustens wegen / Und des jämmerlichen Klagens / Der Sterbenden, die sich noch regen.“ Hart wie das Scheinwerferlicht, stumpfsinnig wie die saufende Wache, das Ich beginnt zu verholzen, erstarrt: „J'étire mes jointures / Et fais craquer le bois“, endet das Gedicht: „Ich bewege meine Scharniere / Lass krachen das Holz.“

Tiefebene in Versen

In Frankreich beginnt man endlich, Ovida Delect zu feiern. Noch 2005 wurde sie im wichtigen Sammelband „Paroles de déportés“ nur als Jean-Pierre Voidies erwähnt und jeden Hinweis auf ihr Leben nach der Befreiung vergessen, anders als bei den anderen Überlebenden. Und noch fehlt ihr Name und ihr Bild auf der Site der „Poètes en Résistance“, die das Bildungsministerium betreibt: Da stehen halt nur echte Männer drauf. Aber das wird sich noch ändern, bestimmt: Schon ist ein Platz in Paris nach ihr benannt, nicht irgendwo verschämt am Rand einer Vorstadt, sondern mittendrin, im vierten Arrondissement, dicht beim Centre Pompidou, seit vergangenem Jahr: im Herzen.

In Deutschland hingegen ist sie noch unentdeckt, auch im Norden, wo sie doch war, und dessen Landschaft und Natur sie in einigen Gedichten besungen hat: Die schlammigen Gräben, die verlausten Baracken, die harten Winde, den vereisten Boden und die Schmerzen, die es bereitet, ohne echte Schuhe über ihn getrieben zu werden: So hat sich die Tiefebene eingeprägt in ihren Versen.

Die Bibliotheken hier sammeln sie trotzdem nicht, nichts von ihr ist übersetzt, und gründlich hatten ja auch schon die Wachmannschaften die Spuren zu beseitigen versucht: „Angeblich wurde er in Sandbostel befreit“, informiert Gedenkstätten-Archivar Römmer über den Verbleib von Jean-Pierre Voidies, im April 1945 müsste das gewesen sein, „sein Weg über Räumungstransporte und Todesmärsche dorthin lässt sich nicht mehr ganz klären“. Und weitere Informationen habe man „leider nicht in unseren Unterlagen finden können“.

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