Debatte über den Denker Achille Mbembe: Die andere Seite der Gleichung

Zur Diskussion über Achille Mbembe und die Beziehung zwischen Postkolonialismus und Antisemitismus gehört der kritische Blick auf den Zionismus.

Zeichnung einer Person, die nachdenklich auf eine Flagge Israels schaut.

Nachdenken über die Beziehung zwischen Postkolonialismus und Antisemitismus Illustration: Katja Gendikova

Die Debatte über den afrikanischen Denker Achille Mbembe berührt eine zentrale Frage: Wie verhalten sich Postkolonialismus und Antisemitismus zueinander? Diese Debatte lohnt, geführt zu werden. Saba-Nur Cheema und Meron Mendel haben in der taz kritisiert, dass Mbembe und der postkoloniale Diskurs die Besonderheiten des Antisemitismus im Vergleich zu anderen Formen des Rassismus ignoriert. Es ist richtig, dieses Thema anzusprechen.

Doch in ihrer Kritik fehlt die andere Seite der Gleichung – in der deutschen Debatte über Antisemitismus ist kein Platz für die kolonialen Aspekte Israels und des Zionismus. Und so ist Cheemas und Mendels Lesart des Antisemitismus unbefriedigend, trotz ihrer Sympathie für den postkolonialen Diskurs. Sie begreifen den Antisemitismus und Israel als eine Geschichte, die isoliert für sich steht. Eine seriöse, wenn auch provozierende und mit Affekten aufgeladene Debatte der zentralen Fragen in Sachen Israel und Palästina ist somit kaum möglich. Deshalb verstehen sie Mbembe falsch.

Es war kein geringerer als Ze’ev Jabotinsky, die charismatische zionistische Leitfigur und der Gründer der revisionistischen Bewegung, der 1923 kühl die kolonialen Aspekte des Zionismus beschrieb. In dem Artikel „Die eiserne Mauer“ erklärte er seinem Publikum schonungslos, warum die Palästinenser den Zionismus gewaltsam ablehnten: „Meine Leser haben eine allgemeine Vorstellung von der Geschichte der Kolonialisierung in anderen Ländern. Ich schlage vor, dass sie alle ihnen bekannten Fälle betrachten und prüfen, ob es einen einzigen Fall gibt, in dem eine Kolonisierung mit der Zustimmung der einheimischen Bevölkerung durchgeführt wurde. Diesen Präzedenzfall gibt es nicht. Die einheimische Bevölkerung hat immer hartnäckig Widerstand gegen Kolonisatoren geleistet.“

Haim Kaplan, ein leidenschaftlicher Zionist aus Warschau, beschrieb 1936 im gleichen Geiste den sogenannten Großen Arabischen Aufstand in Palästina, wo zu jener Zeit seine beiden Kinder lebten. Das Gerede vom wieder aufgeflammten arabischen Antisemitismus sei bloß zionistische Propaganda, stellte er fest. Denn aus ihrer Perspektive hätten die Araber ja recht: Der Zionismus vertreibe sie aus ihrem Land und beginne einen Krieg gegen sie. Kaplan schrieb sein Tagebuch auch während des Holocaust weiter. Es ist einer der wichtigsten Texte aus dem Warschauer Ghetto. Er kam im August 1942 in Treblinka ums Leben.

Widerstand gegen Kolonialisierung

Es war nicht ungewöhnlich, dass Juden in den 1920er und 1930er Jahren erkannten, dass der Krieg, den die Araber gegen die zionistische Bewegung führten, nicht im Antisemitismus wurzelte, sondern in dem Widerstand gegen die Kolonisierung Palästinas. Und doch rechtfertigten die ehrlichen Zionisten Jabotinsky und Kaplan den Zionismus. In Deutschland würden sie heute als antisemitisch denunziert, weil sie Verständnis für den gewaltsamen palästinensischen Widerstand zeigten und den Zionismus als koloniales Projekt bezeichneten.

Antisemitismus zu verstehen bedeutet also auch, eine komplexe Situation zu begreifen: Jüdinnen und Juden werden manchmal auch unter dem Deckmantel des Antizionismus attackiert

Solide Forschungen auch von zionistischen Historikern haben gezeigt, dass der Zionismus, wenn auch nur teilweise, dem Siedlerkolonialismus glich. Zionisten wollten in Übersee eine Gemeinschaft aufbauen, die durch Identitätsbindung und eine gemeinsame Geschichte verklammert war. Das Land, das sie besiedelten, hielten sie für leer und unbewohnt – oder aber von Einheimischen bevölkert, die weniger zivilisiert waren als sie selbst. Sie wollten die Einheimischen weniger beherrschen und ausbeuten denn als politische Gemeinschaft verdrängen. Die Debatte, wie wichtig der Kolonialismus der Siedler für den Zionismus und Israel war, ist noch nicht abgeschlossen – das gilt besonders für die Zeit nach 1967.

Wenn wir den Zionismus auch als eine koloniale Bewegung von Siedlern begreifen, leugnen wir damit nicht, dass er das legitime Ziel verfolgte, eine Heimat für das jüdische Volk zu schaffen. Undwir leugnen auch nicht das Existenzrecht Israels. Wer die USA, Kanada oder Australien als koloniale Siedlerstaaten beschreibt, stellte ja damit auch keineswegs deren Existenzrecht infrage. Aber dieser Blick enthüllt die Zwiespältigkeit des Zionismus. Er war eine nationale Befreiungsbewegung, die Juden, die vor dem Antisemitismus flohen, einen sicheren Hafen bot. Er schuf einen Ort, an dem Holocaust-Überlebende ihr Leben neu und selbstbestimmt in die Hand nehmen konnten. Der Zionismus schuf aber auch einen kolonialen Siedlerstaat, in dem eine klare Hierarchie zwischen Juden und Arabern herrscht und Segregation und Diskriminierung zum Alltag gehören. Solche Phänomene gab es häufig in der Geschichte, und es gibt keinen Grund, Israel und Palästina nicht in diesem Sinne zu analysieren und zu debattieren, einschließlich des Konzepts der Apartheid.

Zionismus zu verstehen bedeutet, zwei komplexe Erzählungen zu erfassen, die unvereinbar scheinen, sich aber in Wahrheit ergänzen. Wir müssen die Geschichte erzählen, warum Juden vor Antisemitismus und Diskriminierung in Europa flohen und in Palästina einwanderten, und wir müssen die Geschichte erzählen, welche Konsequenzen dies für die Palästinenser in den letzten hundert Jahren hatte.

Flüchtling und Siedler

Der palästinensische Intellektuelle Raef Zreik hat diese Ambivalenz in poetische Worte gefasst: „Der Zionismus ist ein koloniales Siedlerprojekt, aber nicht nur das. Er verbindet das Bild des Flüchtlings mit dem Bild des Soldaten, des Machtlosen mit dem Mächtigen, des Opfers mit dem Täter, des Kolonisators mit dem Kolonisierten. Er ist koloniales Siedlungsprojekt und gleichzeitig ein nationales Projekt. Die Europäer sehen den jüdischen Flüchtling auf der Flucht, der um sein Leben ringt. Der Palästinenser sieht das Gesicht des kolonialen Siedlers, der sein Land übernimmt.“

Antisemitismus zu verstehen bedeutet also auch, eine komplexe Situation zu begreifen: Jüdinnen und Juden werden manchmal auch unter dem Deckmantel des Antizionismus attackiert. Sie sind heute in vielen Ländern weltweit (potenzielle) Opfer von Antisemitismus, während Israel ein Übeltäter ist. Juden können wie alle Menschen sowohl Opfer als auch Täter sein. Das macht Juden nicht kleiner und würdigt sie nicht herab. Im Gegenteil: Es macht sie mehr und nicht weniger menschlich.

In dieser Lage haben Juden eine doppelte Verantwortung: Sie müssen den Antisemitismus weltweit bekämpfen – und sie tragen in Israel die Verantwortung für das falsche Verhalten gegenüber den Palästinensern. Jede Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt, die zum Ziel hat, allen, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer wohnen, die vollen politischen, nationalen, bürgerlichen Rechte und die Menschenrechte zu gewähren (sei es in Form eines Staates, zweier Staaten oder einer binationalen Föderation), sollte politisch willkommen sein und nicht als antisemitisch gelten.

Deutschland ist in den letzten beiden Generationen ein Modell für Vergangenheitsbewältigung geworden. Wir fragen uns, ob dieser Weg nun in eine Art Sackgasse geraten ist, die ein vorsichtiges Umdenken erfordert. Die derzeitige Situation in Deutschland ist absurd. Jede Kritik an der israelischen Besatzungspolitik gilt als antisemitisch. Ist das wirklich die Lehre, die die Deutschen aus dem Holocaust ziehen? Dass Juden kein Unrecht tun können? Dieser Philosemitismus hat etwas Beunruhigendes.

Universeller moralischer Imperativ

Wir beide lehren die Geschichte des Holocaust. Eines der Dinge, die wir aus der Beschäftigung mit dem Holocaust gelernt haben, ist, wie wichtig es ist, auf die Stimmen der Opfer zu hören. „Die Stimmen der Opfer“ lautete die Überschrift einer Kritik in der Zeit, die das Werk des Historikers Saul Friedländers lobte. Dessen mehrbändige Studie „Das Dritte Reich und die Juden“ zeigt exemplarisch wie wichtig es ist, die Stimmen der Opfer in die historische Analyse einzubeziehen. Eine ähnliche Forderung stellte Gayatri Spivak auf dem Gebiet der Postcolonial Studies, wenn sie fragt: „Können die Subalternen sprechen?“ Bei beidem, dem Holocaust und dem europäischen Kolonialismus, ist auf die Stimmen der Opfer zu hören zu einem universellen moralischen Imperativ geworden, auch über den Holocaust hinaus.

Wer sind die Subalternen und die Opfer in den Kontexten, von denen wir sprechen? Beim Holocaust und Antisemitismus sind dies Juden. Beim Konflikt im Heiligen Land sind dies auf gänzlich andere Weise die Palästinenser. Wir sollten auch ihnen aufmerksam zuhören. Sie haben früh erkannt, dass der Zionismus koloniale Züge hat. Sie haben darauf hingewiesen, dass arabische Zivilisten 1948 vertrieben wurden – und nicht freiwillig ihre Dörfer und Städte verließen. Heute sind sie Zeugen der israelischen Besatzung: der Plünderung von Land, der Errichtung von Siedlungen, der Tötung Unschuldiger, des Abrisses von Häusern und anderem. Sie sind Zeugen wie der palästinensische Traum von einem unabhängigen Staat in den Grenzen von 1967 von Israel zerschlagen wird – denn Israel plant derzeit die Annexion großer Teile des Westjordanlands.

Wir sollten auf diese Stimmen hören. Nicht, weil sie immer recht haben – wer hat das schon? Auch wenn diese Stimmen wütend klingen – die Besetzten haben ein Recht darauf, wütend zu sein. Wir aber haben die Pflicht, den Zeugen der Ungerechtigkeit zuzuhören. Diese Stimmen sind Teil des Gesprächs und dürfen nicht reflexartig als antisemitisch bezeichnet werden. Wenn wir auf diese Stimmen hören und unserer Verantwortung genügen, macht uns das mehr und nicht weniger jüdisch. Es macht uns alle mehr, nicht weniger menschlich.

Übersetzt aus dem Englischen von Stefan Reinecke. Der Artikel von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel erschien in der taz am 25. April

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.