Welt ohne Feierabend

Keine Einteilung mehr. Kein Ausschalter: Über die negativen Seiten der (vermeintlichen) Entschleunigung

Die Bilder auf diesen beiden Seiten (und auf Seite 41) hat Anja Weber für die taz fotografiert: „Auf dem Gehweg vor meinem Haus gibt es gefühlt viel mehr Spaziergänger. Vielleicht schaue ich aber auch nur öfter runter als früher.“

Von Susanne Messmer

Ich arbeite aus gutem Grund in einer Festanstellung mit festen Arbeitszeiten und der Möglichkeit, relativ klar Arbeit und Leben zu trennen. Als vor zehn Jahren die Sache mit der Familiengründung begann, wollte ich das so. Mein Leben als freie Kreative erschien mir unter den neuen Bedingungen plötzlich als völlig absurd. Viele Wochen meines Lebens hatte ich bis dahin 12 Stunden am Tag im Büro gesessen, manchmal sieben Tage die Woche. Ich hatte mir nie Urlaube ohne Arbeitsauftrag geleistet. Für mich war alles Arbeit, ich hielt Erholung für eine Erfindung der Freizeitindustrie, und mir fehlte nichts.

Heute, wo ich dank Coronakrise seit Wochen isoliert mit der Familie in der Vorstadt hocke, 40 S-Bahn-Minuten von Mitte entfernt, fühle ich mich absurderweise oft an die wildere Zeit vor den Kindern erinnert. Ich kommuniziere nur noch über Handy und Computer mit Erwachsenen, was sehr viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als sonst, wo einfach mal was auf Zuruf geklärt werden kann. Während meiner Arbeitszeit betreue ich oft die Kinder, weil mein Partner zwar auch zu Hause ist, aber wie ich arbeiten soll.

Während ich versuche, für diese Zeitung ein Interview mit einer Buchhändlerin vorzubereiten etc., muss ich meiner Tochter erklären, wie man adverbiale Bestimmungen vom Akkusativobjekt unterscheidet, sie daran erinnern, wie man schriftlich dividiert, muss meinem Sohn ein Pflaster auf die neue Schürfwunde kleben, eine Info suchen, von der ich nicht mehr weiß, ob sie auf WhatsApp, Signal oder WeChat kam, die Waschmaschine anschmeißen, die Post für die Nachbarn annehmen …

Ich checke auch an meinen freien Tagen und am Wochenende zu häufig News, und anstatt mal wieder ein langes Buch zu lesen, sehe ich viel zu oft nach meinen Mails und studiere Analysen zur Lage in den griechischen Flüchtlingslagern.

Trotz einer Art Stundenplan, die wir uns gleich am Anfang der Kontaktsperre gebastelt haben und der den Tag in Essens-, Arbeits- und Plauderzeiten mit Freunden, Medienkonsum und stille Pausen unterteilt, fehlen uns die Eckpfeiler, die echten Termine.

Meine Zeit vergeht nicht langsamer, im Gegenteil. Je weniger ich am Tag schaffe, desto schneller scheint er mir im Rückblick vergangen zu sein. Ich muss mich stark konzentrieren, wenn ich gefragt werde, seit wie vielen Wochen ich nun schon so lebe.

Mein Leben kommt mir neuerdings eher breiförmig vor. Ich empfinde keine Entschleunigung, sondern Stress, und weiß doch, wie es jenen geht, die noch ganz andere Sorgen haben, zum Beispiel Existenzangst.

Für mich ist wie vor zehn Jahren plötzlich wieder alles Arbeit, sie lässt sich einfach nicht mehr ausschalten. Der Unterschied ist: Obwohl ich nach wie vor in meinem Traumberuf arbeite, im Grunde seit einem Vierteljahrhundert ein und dasselbe mache und es immer noch spannend finde, bin ich derzeit oft unglücklich damit. Das ist nicht nur wegen meines fortgeschrittenen Alters und meiner abnehmenden Belastbarkeit so.

Am Anfang meines Berufslebens dachte ich oft, dass es das Wichtigste sei, einen Job zu finden, der einen ganz erfüllt – und dass man dann gut und gern auf den Rest verzichten kann. Inzwischen habe ich viel darüber gelesen, geschrieben und geredet, wann und warum dieser alte Traum vom selbstbestimmten Leben eigentlich entstanden ist. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie schön funktional diese Idee in unserer Arbeitswelt der Deregulierung, Flexibilisierung und Virtualisierung heute funktioniert. Ich habe den in Freiburg lehrenden Soziologen Ulrich Bröckling gelesen, der ein plastisches Bild vom ewig kreativen, ebenso wendigen wie biegsamen Künstler-Unternehmer entworfen hat, der sich völlig hektisch permanent neu erfindet. Im Grunde verbirgt sich hinter der von Routinen befreiten, eigenverantwortlichen Arbeitswelt ein Tugendterror, der nie härter war.

Im Homeoffice funktioniert die Trennung von Arbeit und Leben viel zu selten

Sehr schön geschildert hat auch der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz, wie ausgerechnet die 1968er, die den Menschen eigentlich aus dem Korsett der lebenslangen Pflichterfüllung befreien wollten, den Grundstein für diese Tyrannei der ständigen Selbstverwirklichung legten.

Früher bekamen die Menschen oft künstliche Gelenke, weil sie den größten Teil ihres Lebens zu schwer geschleppt hatten. Heute machen sie eher Yogawochenenden oder Coaching-Seminare, um einem Burnout vorzubeugen. Es gibt inzwischen Ärzte, die ihren gestressten Patienten verschreiben, das Handy nach 18 Uhr auszuschalten, und jeden Abend eigenhändig in den sozialen Medien nachsehen, ob sie dies denn auch einhalten. Sie schalten einfach nie mehr ab, weder im wörtlichen noch im übertragenden Sinn. So wie ich jetzt, im Homeoffice, wo die Trennung von Arbeit und Leben in meinem Fall viel zu selten funktioniert.

Ich sehne mich danach, endlich wieder nach dem Aufstehen ins Büro zu dürfen, und um 18 Uhr mit dem schönen Gefühl, meine Arbeit getan zu haben, den Computer runterzufahren, ins Kino oder in die Kneipe zu dürfen, die Kinder irgendwo hinzufahren, die Bücher zu sortieren, oder irgendetwas anderes völlig Unverwertbares und Sinnloses tun dürften, wozu ich derzeit viel zu wenig Muße habe.

Ich wäre sehr froh, wenn meine Zeit auf diese Weise wieder langsamer verstreichen würde.