„Die Ent­schleunigung ist extrem ungleich verteilt“

Und parallel gibt es auch extreme Beschleunigung, sagt Dietrich Henckel. Der Wirtschafts­wissenschaftler über die Entstrukturierung der Zeit und darüber, warum wir alle Zeitkom­petenz entwickeln sollten

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Dietrich Henckel

ist emeritierter Wirtschaftswissenschaftler an der Technischen Universität Berlin und geschäfts­führender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik in Berlin. Seine Themenschwerpunkte sind wirtschaftlicher Strukturwandel und kommunale Zeitpolitik. Er lebt in Mitte.

Interview Anna Klöpper

taz: Herr Henckel, einerseits ist mein Handykalender komplett leer, weil ganz viele Termine wegfallen. Andererseits habe ich nicht das Gefühl, mehr Zeit zu haben. Wo bleibt die Entschleunigung?

Dietrich Henckel: Ich glaube, diese Entschleunigung ist extrem ungleich verteilt. Da gibt es die Leute, die ein Riesenzeitgeschenk haben, die mehr Freizeit haben, sich mit Dingen beschäftigen können, die sie schön finden – und andere, für die das überhaupt nicht gilt. Mein Kollege Hartmut Rosa spricht ja auch gerade von der „großen Entschleunigung“. Das ist auch sicher ein Aspekt. Ich mache abends noch Radtouren und fahre durch ein menschenleeres Berlin. Das ist faszinierend. Aber andererseits haben wir eben gerade auch eine ex­treme Beschleunigung.

Wo beschleunigen wir?

Ein Teil der Messehallen im ICC wird innerhalb von wenigen Wochen in ein Krankenhaus umgebaut. Das Wettrennen um Impfstoffe, um Medikamente, um Testkapazitäten. Der Versuch, die Kurve der Neuinfizierten abzuflachen, die Umstellung des Gesundheitswesens zu diesem Zweck und unter Hochdruck. Das sind extreme Beschleunigungen, und da stehen wir unter enormem Zeitdruck.

Aber das beschleunigt mich doch nicht als Individuum, oder?

Doch, sicher. Klar, Menschen, die sich ihre Arbeitszeit ohnehin schon vorher relativ frei einteilen konnten, die haben jetzt vielleicht noch mehr Freiheit. Aber denken Sie an die Menschen in Krisenstäben, die haben fest von außen vorgegebene Takte. Mein Nachbar ist Teil eines Krisenstabs in einem großen Unternehmen, der schuftet gerade wie ein Verrückter, auch im Homeoffice. Die Schulen müssen sich jetzt ganz schnell digitalisieren. Denken Sie an den Gesundheitssektor oder den Einzelhandel. Alle Menschen, die jetzt – wie heißt es so schön? – als systemrelevant gelten: Da ist extrem wenig Entscheidungsfreiheit über die eigene Zeit. Für ganz viele Menschen gilt diese Entschleunigung also gerade gar nicht.

Mein Empfinden ist: Die Zeit rast, obwohl gar nicht viel passiert. Und zugleich habe ich das Gefühl, dass die Zeit sich dehnt – der Februar, die Zeit vor den ersten Coronafällen in Berlin, ist sehr weit weg.

Man sagt ja immer, dass Langeweile die Zeit dehnt, sie also langsam ­vergehen lässt. Aber ich teile Ihr Gefühl, auch für mich vergeht die Zeit gerade wahnsinnig schnell – ­obwohl ich eigentlich gerade nicht viel tue. Ich denke, das hat mit einem Gefühl der „Unordnung“ zu tun, ich empfinde durchaus eine Entstrukturierung der Zeit. Die Tage zerfließen, der übliche Rhythmus löst sich auf. Die Hamburger Wasserbetriebe haben übrigens neulich gemeldet, dass sich die Spitzen des morgendlichen Wasserverbrauchs verschieben, die Leute duschen jetzt später morgens. Das kann ein Zeichen für eine gewisse Entstrukturierung sein oder für die Wahrnehmung von Zeitautonomie, dass die Leute jetzt später aufstehen und ihren Körperrhythmen folgen.

Wie kommen wir mit dieser Entstrukturierung klar?

Ich glaube, das lässt sich nicht pauschal sagen, weil die Lebenshintergründe so unterschiedlich sind. Zwei Freundinnen von mir freuen sich über das Homeoffice, weil sie jetzt endlich mehr Zeit für die Kinder haben. Anderen geht es aber gerade nicht so. Die positiven und negativen Effekte sind sehr viel differenzierter und ungleicher verteilt, als die Entschleunigungsdiskussion es suggeriert. Zum Beispiel Familien, in denen Gewalt ein Thema ist: Die freuen sich nicht über noch mehr Zeit, in denen sie sich nicht aus dem Weg gehen können.

In der Großstadt bin ich von ganz vielen Orten, an die ich gehen könnte, plötzlich auf sehr wenige bis einen, mein Zuhause, zurückgeworfen.

Ja, die Optionen in der Stadt schrumpfen gerade extrem, das kann beängstigend sein, wenn das Zuhause mit Enge, Konflikten oder großer Einsamkeit verbunden ist.

Gibt es Strategien, wie man damit klarkommt?

Es ist wichtig, Zeitkompetenz zu entwickeln: Bin ich in der Lage, autonom über mich und meine Zeit zu entscheiden? Das ist gar nicht so leicht. Ein Kollege von mir hat im Zusammenhang mit Corona auch über ein „vergiftetes Zeitgeschenk“ gesprochen: Man hat jetzt plötzlich einen Sack voll Zeit vor die Füße gestellt bekommen, aber man kann sich nicht darüber freuen, weil es nicht klar ist, wie lange dieser Zustand dauert.

Glauben Sie, dass wir weniger uhrzeitfixiert sind nach Corona, weil wir selbstständiger mit unserer Zeit umgehen?

Da ist viel Spekulation dabei. Ich bin da ambivalent. Mag sein, dass einige sagen: Ich verändere mein Verhalten, ich bin jetzt weiterhin eingeschränkter verfügbar für die Welt. Aber ich glaube, wir werden schnell wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Wir könnten uns doch eine Abkehr von der Uhrzeit auch gar nicht erlauben: Denken Sie alleine an die Verkehrssysteme, an digitale Systeme, die basieren auf einer Koordination von extremer zeitlicher Exaktheit.

Ökonomisch sprechen wir jetzt oft von einem Stillstand, die marktwirtschaftliche Wachstumslogik gilt vor­übergehend nicht mehr. Wird das unser Wirtschaftssystem nachhaltig verändern?

Auf die Einbruch- wird die Aufholphase folgen, eine Wiederaufbau-, eine Neustartphase. Das wird eine Beschleunigung geben. Zum Beispiel gibt es jetzt ja die Hoffnung, dass Corona langfristig dem Klima nützt, weil der CO2-Ausstoß sinkt und wir plötzlich Klimaziele einhalten könnten. Aber da bin ich skeptisch. Jedenfalls habe ich noch von keinen Ideen gehört, die über einen kurzfristigen Effekt hinausgehen.

Man hätte doch jetzt Zeit, über Ideen nachzudenken?

(lacht) Da wären wir wieder bei der Frage: Sind wir denn so entschleunigt, dass wir dafür Zeit haben? Die Leute, die sich darüber Gedanken machen könnten, sitzen jetzt in Krisenstäben und halten den Laden am Laufen.

Die Entschleunigungsthese ist also Quatsch.

So weit würde ich nicht gehen: Es gibt auch Entschleunigung in Coronazeiten, aber ich bin skeptisch, dass das eine vorherrschende und dauerhafte Folge sein wird.