Corona-Tracking in Deutschland: Nur ein Baustein

Die Corona-App allein ist kein Heilsbringer, viele besitzen kein Smartphone. Und wie funktioniert die App überhaupt?

Zwei Hände mit Einweghandschuhen halten ein Mobiltelefon

Sieben von zehn Deutschen nutzen ein Smartphone Foto: Ali Hashido/reuters

Seit Wochen befindet sich Deutschland im sozialen Ausnahmezustand. Corona hat das öffentliche Leben fest im Griff, doch der Weg raus aus der Isolation ist völlig unklar. Weil wir im digitalen Zeitalter leben, ist die Hoffnung groß, dass auch virtuelle Waffen helfen, die Pandemie einzudämmen. App und Tracking heißen die Zauberwörter.

Das Gute zuerst: Deutschland und die EU diskutieren über Datenschutz und Privatsphäre – und zwar flächendeckend. Endlich wird über das Sammeln und Speichern von Daten diskutiert, wird versucht verständlich zu machen, was es bedeutet, wenn digitale Techniken Zugriff bekommen auf das Persönlichste, was wir haben: Informationen über unseren Gesundheitszustand, unsere Aufenthaltsorte, unser Leben.

Klar, in kleinen, aber feinen Ex­pert:in­nen­kreisen hatte das Thema immer oberste Priorität. Denn es geht schließlich um elementare Grundrechte, Rechte, die gewahrt werden müssen – wenn sie die Bundesrepublik, wenn sie die Europäische Union ernst nimmt. Nie ging es um Wohlfühlkriterien, um ein Nischenthema von Technik-Freaks, das Unternehmen ins vermeintliche Bürokratie-Chaos stürzt oder politische Veränderungen abwehrt.

Genau diese ausgewiesenen Ex­per­t:in­nen schaffen es nun in die oberste Regierungsetage. Ausgerechnet Gesundheitsminister Jens Spahn – Fan von eHealth, elektronischer Patientenakte, Digitalisierung im Krankenhaus, in der Pflegeeinrichtung und in der Hausarztpraxis – lenkt ein. Und mit ihm das Kanzleramt. Nach enormer Kritik vom Chaos Computer Club, Digital-Aus­ken­ne­r:in­nen und Ver­brau­cher­schüt­zer:in­nen schwenkt die Bundesregierung von einer zentralen zu einer dezentralen Corona-App um. Die Entscheidung ist ein kleiner Sieg für den Datenschutz. Einstige Kritiker:innen freuen sich überschwänglich über die Kehrtwende.

Zumindest darüber, dass sich das Bewusstsein für den Umgang mit persönlichen Informationen verbessert. Wenn darauf eine echte Auseinandersetzung mit Datensaugern wie Apple, Google oder Facebook folgt, könnte dies weitreichende Folgen für unser digitales Nutzerverhalten haben. Es wäre höchste Zeit: Denn wer Katzenvideos schaut, gibt jedes Mal private Daten preis. Was damit passiert, weiß nur das Unternehmen. Und auch da gibt es Lücken, wie der Fall Cambridge Analytics 2019 zeigte.

Eine Evaluierung der App-Nutzung ist nötig: Was bringen die Ergebnisse – oder sammelt sich nur Datenschrott an?

Welchen Sinn machen solche Apps überhaupt? Viro­lo­g:in­nen klagen seit Monaten darüber, dass ihnen die Datengrundlage fehlt, um das Virus zu erforschen, Verbreitungswege einzuschätzen und damit den politischen Ent­sch­eide­r:in­nen Empfehlungen für soziale Einschränkungen der Bevölkerung zu geben.

Die Corona-App soll helfen, Kontakte zu Infizierten zu ermitteln. So weit, so gut. Allein diese Informationen reichen jedoch nicht aus, denn Detailrecherchen sind lebensnotwendig. Wo fand die Begegnung statt? Wie groß war der Abstand zu den Infizierten? Schützten sich die Betroffenen mit einer Maske? Wenn ja, mit welcher? Antworten auf diese Fragen liefert die App nicht. Um physisch-persönliche Befragungen kommen die Wissen­schaft­ler:in­nen nicht herum.

Während in Singapur, Israel, Taiwan, Hongkong oder auch Österreich digitale Techniken munter eingesetzt werden im Kampf gegen Covid-19, dominieren hierzulande noch Strategien, die For­scher:in­nen wie aus dem Mittelalter vorkommen. Sie schwören auf den digitalen Fortschritt. Der App-Alarm kann aber nur ein Baustein für die Forschung sein. Absolute Voraussetzung müsste eine Evaluierung der App-Nutzung sein, um tatsächlich herauszufinden, was die Ergebnisse bringen oder ob sich nur jede Menge Datenschrott ansammelt.

Erschwerend kommt hinzu: Vorsichtigen Schätzungen zufolge müssten mindestens 60 Prozent der Bevölkerung eine solche App installiert haben, damit auch nur annähernd valide Aussagen getroffen werden können. In Deutschland wären das etwa 50 Millionen Menschen, EU-weit rund 350 Millionen Bür­ge­r:in­nen. Erhebungen von Bitkom oder anderen IT-Verbänden belegen aber, dass nicht annähernd alle ein Smartphone haben, um die App überhaupt zu nutzen.

Diejenigen, die ein solches Gerät besitzen, müssten verstehen, wie die App funktioniert, dass sie andere Smartphones erfasst, die in der Nähe waren, und dann später Nutzer:innen warnt, wenn sie Kontakt mit infizierten Personen hatten. Außerdem sollte klar sein, wo die Daten landen, wann und wie sie wieder gelöscht werden. Auch Antworten auf die Frage, wie sicher die Infrastruktur der Server ist, auf denen die Informationen gespeichert werden, bleiben noch aus.

Trotzdem werden schon Forderungen laut, dass doch bitte jeder und jede die App installiert haben soll – zumindest dann, wenn ein Besuch etwa in öffentlichen Gebäuden ansteht. Kein Zutritt ohne App? Ade, Freiwilligkeit. Sonst ist die Erledigung beim Amt, in der Bibliothek, im Museum schlicht verboten. Auch privatwirtschaftliche Einrichtungen könnten auf den Dreh kommen.

Sozialer Druck steigt

Zugegeben ist das ein gewagter Blick in die Zukunft. Aber was, wenn beim Betreten von Post, Bank oder Supermarkt die App-Abfrage Voraussetzung ist? Schließlich wollen alle den Corona-Lockdown so schnell wie möglich beenden und ihr altes Leben zurück. Wer nicht mitmacht, gefährdet das Leben von Älteren, von kranken Menschen. Der moralische und soziale Druck auf jeden Einzelnen steigt immens. Ängste zu schüren war noch nie ein guter Ratgeber.

Die App allein ist kein Heilsbringer. Nach wochenlangen zähen Debatten um ihren Einsatz liegt nun eine Variante vor, die wenigstens ein bisschen mehr Vertrauen in und Akzeptanz für die Digitalkompetenz der Bundesregierung schafft. Wann sie denn nun kommt, steht allerdings in den Sternen. Die Bundesrepublik ist noch immer digitales Wunderland.

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Schreibt seit 2016 für die taz. Themen: Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungszusammenarbeit, früher auch Digitalisierung. Seit März 2024 im Ressort ausland der taz, zuständig für EU, Nato und UN. Davor Ressortleiterin Inland, sowie mehrere Jahre auch Themenchefin im Regie-Ressort.

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