berliner szenen
: Übertrieben frei auf der Betoninsel

Ich entdecke Neukölln neu, obwohl ich schon seit 2013 hier wohne. Mein Ziel war, die Industrielandschaft in meiner Nähe zu erkunden, in der Hoffnung, dass bei strahlendem Wetter nicht viele andere auf dieselbe Idee kommen: Ich überlasse euch das Grün der Parks und darf dafür eine Weile draußen verbringen, ohne mich zu ärgern, weil mir jemand zu nah kommt, um mich irgendwas zu fragen, denke ich bei mir. Jahrelang habe ich mich danach gesehnt, öfter auf der Straße angesprochen zu werden, im Moment will ich das nicht mehr.

Aus dem Haus rauszugehen ist am schwierigsten. Mein Nachbar hält mir die Tür auf und scheint nicht zu verstehen, warum ich zögere. Er wiederholt „Bitte, bitte, die Dame“. Auf dem Bürgersteig unterhalten sich zwei Nachbarinnen, mein Kiez ist belebter als je zuvor. Abstand zu halten ist wie ein Videospiel. Ich radle die Sonnenallee hoch und freue mich, dass es schon beim Estrel-Hotel ruhiger ist. Auf einem leeren Parkplatz läuft ein Fuchs herum, und ich fahre ihm instinktiv hinterher. Er verschwindet, doch nun merke ich, dass ich ganz allein auf dieser Betoninsel bin, und lockere meine Klamotten, um mehr Luft zu bekommen. Ich höre Musik, fahre freihändig und fühle mich übertrieben frei. Die Welt kommt mir vor, als hätte man sie mit knalligen Farben ausgemalt.

Ich nehme den Dammweg und fahre auf kleinen Straßen hin und her. Ich finde alles schön, wie fast immer, wenn ich das erste Mal an einem Ort bin. Plötzlich bin ich am Teltowkanal, dann am Baumschulenweg, in Britz und am Ende in Treptow. Ich versuche, in eine mir unbekannte Richtung zu fahren, um die Reise zu verlängern, und komme aus Versehen zur Grenzallee. Zu Hause tun mir die Beine weh, und ich habe Bilder im Kopf, die ich nicht einordnen kann, so, als hätte ich fünf verschiedenen Städte an einem Tag besichtigt. Luciana Ferrando