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: Mit Fernglas den Hinterhof ausspionieren

Was machen eigentlich Einbrecher*innen gerade? Wo doch jetzt jede*r zu Hause bleibt? Laut Polizeistatistik sind die Wohnungseinbruchzahlen in Berlin seit Corona tatsächlich zurückgegangen – die Keller- und Dachbodeneinbruchzahlen allerdings steil gestiegen: um knapp 30 Prozent. Die Polizei vermutet einen Zusammenhang, dass die Menschen momentan verstärkt die Zeit dafür finden, mal wieder den Keller oder den Dachboden auszumisten. Und erst dabei fällt ihnen auf, dass die Diamantensammlung verschwunden ist, oder was Menschen so im Keller oder auf dem Dachboden aufbewahren (ich habe weder das eine noch das andere, nur darum habe ich mir bislang noch keine Diamantensammlung zugelegt).

Das viele Zuhausesein führt jedenfalls zu einer genaueren Beobachtung der Nachbar*innen. Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ erscheint da geradezu prophetisch: Der Fotoreporter L. B. Jefferies, gespielt von James Stewart und Jeff genannt, ist durch ein gebrochenes Bein an einen Rollstuhl in seinem Wohnzimmer gefesselt. Er wird ab und an von seiner schönen Freundin Lisa, also Grace Kelly, besucht. Weil der heiße Sommer in San Francisco allen zusetzt und der Film 1954, also in einer Prä-Klimaanlagen-Zeit, gedreht wurde, lassen viele von Jeffs Hinterhofnachbar*innen ihre Fenster offen. Per Fernglas nutzt Jeff diesen Zustand, observiert sie schamlos – und ist plötzlich davon überzeugt, Zeuge einer Straftat geworden zu sein.

Ich liebe den Film, trotz der dicken Schminke auf James Stewarts Gesicht, die ihn vermutlich attraktiver für Lisa machen soll – Grace Kelly war zum Zeitpunkt des Drehs 24 Jahre alt, Stewart schon 45, was theoretisch egal ist, weil die Liebe kein Alter kennt, aber dennoch subtil durchscheinen lässt, welche Art von Schönheit für welches Geschlecht zwingend war. Kelly alias Lisa erscheint mir die Entspanntere der beiden zu sein – Jeffs voyeuristische Besessenheit mit den Nachbarn hilft zwar dabei, einen Mord aufzuklären, ist aber auch unheimlich. Lisa dagegen liest gut gelaunt Modemagazine und hat definitiv ein eigenes, dem/der Zuschauer*in verborgenes Leben, das nicht nur auf dem obsessiven Beobachten anderer Menschen fußt.

Im abgewrackten Hinterhof gegenüber kläffen seit Wochen zwei kleine Hunde. Ich habe sie mithilfe des Internets als „Havanesen“ identifiziert, bin mir aber nicht sicher. Sie sind anscheinend noch sehr jung, aufmerksam, hängen an einer einzigen, nicht mal zwei Meter langen Leine und wedeln den ganzen Tag vorfreudig mit dem Schwanz.

Einmal am Tag geht jemand mit ihnen spazieren, danach zerren sie wieder an der Leine, und ihr Bellen hallt von den Brandwänden. Inwiefern das den Tatbestand von Tierquälerei erfüllt, kann ich nicht beurteilen, die Angst davor, Denunziantin zu werden, hielt mich bislang davon ab, irgendwem Bescheid zu geben. Aber das einsame Kläffen verfolgte mich und ließ mich mehrmals „Tierquälerei Anzeige“ googeln – dann sah ich die Köterchen wieder aus dem Vorderhausfenster glücklich bei ihrem Gassigang herumhüpfen und überlegte, ob ich wirklich richtig lag.

Vorgestern Abend kam die Polizei vorbei und nahm die Wauzis mit – anscheinend ist jemand anders zum Denunzianten geworden, ein anderer Jeff mit Fernglas. Und jetzt weiß man wieder nicht, ob es im Tierheim wirklich besser ist als im Hinterhof. Aber man hofft, solange man lebt. Jenni Zylka