Sein Rücken grüßt nicht zurück

Manchmal gibt es direkt neben uns Menschen, die sich zurückgezogen haben – lange vor Corona

Die Fachwerkidylle trügt: Auch auf dem Dorf gibt es Menschen, die allein sind; manche wollen es sogar Foto: Walter Rudolph/imago/United Archives

Von Juliane Preiß

Wenn ich aus dem Küchenfenster die Straße runterschaue, kann ich ihn manchmal beobachten. Es ist wie ein kleines Ritual, wenn er sein Herrenrad aus dem Gartentor schiebt, es dann gegen den morschen Zaun lehnt, um das Tor zu schließen. Für ein paar Minuten beugt er sich über das Rad. All seine Bewegungen sind langsam, er trägt immer einen Bundeswehrparka, sommers wie winters. Dann steigt er auf, tritt die ersten drei Umdrehungen schwer in die Pedale, vielleicht ist die Gangschaltung kaputt, und fährt um die Ecke.

Da heißt es immer: Auf dem Dorf kennt jeder jeden. Weit gefehlt. Es müsste heißen: Auf dem Dorf glaubt jeder jeden zu kennen. Statt mit den Menschen zu reden, formt man sich ein Bild aus mehr oder weniger verlässlichen Informationen, Halbwahrheiten und Gerüchten. Ich finde das total daneben, und mache es trotzdem genau so.

Das Bild, was ich mir von meinem Nachbarn, drei Häuser die Straße runter, zurechtgezimmert habe, existiert seit meiner Kindheit. Der mit dem Haschmich. Er habe mal einen ordentlichen Beruf gelernt, heißt es, Zahntechniker, dann wurde er verrückt. Oder zumindest seltsam. Das reichte an Informationen, wir Kinder aus dem Dorf ließen ihn in Ruhe. Ich weiß, wie er heißt, aber sein Name muss an dieser Stelle keine Rolle spielen.

Von unserm Hof bis zu seinem sind es 150 Meter, wenn ich aus dem Küchenfenster schaue, sehe ich die große Fachwerkscheune, dahinter das zweistöckige Wohnhaus, zwischen und hinter den Gebäuden: Wildnis. Brombeerhecken, alte Apfelbäume, durch das Gras führen Trampelpfade. Nur der Gemüsegarten hat seine Ordnung, die Stangen für die Bohnen stehen gerade, die frische Aussaat ist mit einem Vlies abgedeckt, Mangold, Kartoffeln. Manchmal, wenn ich vorbeilaufe und neugierig in den Garten starre, erschrecke ich mich. Weil ich ihn entdecke, gebückt mit einer Hacke, kaum auszumachen im Bundeswehrparka. Er dreht immer den Rücken zur Straße. Ich grüße den Rücken, „Guten Tach“, wie man das hier so macht. Der Rücken grüßt nie zurück.

Früher hat er noch gegrüßt, der Nachbar, auch von vorn. Er hob die Hand, ein leises „Guten Tach“, der Blick ging meist ins Leere. Ich sah ihn öfter. Wie er seine Schafe mit lautem „Ko-ho-ho-hom“ die Straße hinauflockte, worüber die Nachbarn die Augen verdrehten, weil die Fahrbahn danach mit Köteln gespickt war. Manchmal transportierte er auch ein paar Tiere in seinem orangefarbenen Golf I, der nur ansprang, wenn er ihn den Berg runterrollen ließ. Das mit den Schafen lief nicht gut, oft kam der Abdecker und kippte leblose Körper auf die Ladefläche, die Nachbarn schüttelten die Köpfe.

Ich war lange weg, der Nachbar blieb einfach da. Er wohnte immer allein. „Er haust“, sagen die Dorfbewohner, obwohl noch nie jemand das Haus von innen gesehen hat. Seine Mutter stammte von einem alten hessischen Adelsgeschlecht ab, das im Dorf einen Gutshof betrieb. Sie erbte Ländereien und den Hof, was sie an ihn übergab. Das zweistöckige Haus kippt langsam aus den Fugen, in die entstandenen Spalten hat der Nachbar Textilien gestopft. „Lange geht das nicht mehr gut“, sagen die Leute im Dorf.

Wenn mich jemand bitten würde, den Nachbarn zu beschreiben, würde ich nicht weit kommen. Hochgewachsen, schlank, früher hatte er braune, kinnlange Haare, heute, ich weiß es nicht. Sind die Haare grau? Sein Gesicht? Keine Vorstellung. Sein Alter schätzen ältere Dorfbewohner auf um die 60.

Fließend Wasser hat er nicht, der Strom wurde ihm angeblich gekappt. Ich lausche manchmal unter dem Fenster, bilde mir ein, ich höre ein Radio oder Fernseher. Ich frage mich dann, wie lange es dauern würde, bis man ihn entdeckt, falls er stirbt. Vermutlich sehr lange. Ich nehme mir vor, seinen Garten zu beobachten, wenn der verwahrlosen sollte, müsste mal jemand nachsehen.

Es ist seltsam, ich könnte noch viel mehr über meinen Nachbarn schreiben, obwohl ich eigentlich nichts über ihn weiß. Vielleicht ist das anmaßend, aber ich weiß nicht, ob ich meine innere Distanz überwinden könnte, um ihn einfach mal anzusprechen.

Wahrscheinlich würde sowieso keine Antwort kommen.

Juliane Preiß war Chefin vom Dienst bei der taz nord und ist vorübergehend in ihr nordhessisches Heimatdorf zurückgekehrt. Viele der 600 Einwohner*innen kennt sie von früher.