Historiker über Distanz im Mittelalter: „Vertrauen durch Nähe“

Der Historiker Klaus Oschema beschäftigt sich mit Abstandsregeln im Mittelalter. Körperliche Nähe zum Fürsten konnte Aufstieg oder den Tod bedeuten.

Eine Zeichnung zeigt die Wahl des deutschen Königs um 1300

Nicht immer ungefährlich: die Nähe zum Herrscher, dargestellt im mittelalterliche Sachsenspiegel Foto: Wikicommons

taz: Herr Oschema, was bedeutete körperliche Nähe am mittelalterlichen Hof? Ehre oder Gefahr?

Klaus Oschema: Die Position der Körper im Raum spielte für die gesellschaftliche Organisation immer eine Rolle, das ist heute nicht anders als am mittelalterlichen Hof. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass das politische Machtzentrum in der Wahrnehmung der mittelalterlichen Gesellschaften der Fürst selbst war. Und die Nähe oder Distanz zu diesem Zentrum ist ausschlaggebend für die Wahrnehmung der jeweiligen Positionen – das heißt, je näher am Fürsten, desto besser, weil es ein Zeichen des Vertrauens des Fürsten ist. Gleichzeitig sind diejenigen, die nah am Machtzentrum sind, selbst aber nicht dieses Zentrum sind, immer gefährdet, von Neidern und Konkurrenten angefeindet oder gewaltsam attackiert zu werden. Dadurch ist es automatisch eine ambivalente Situation.

Wenn man über das Leben und den gewaltsamen Tod einiger Günstlinge im Mittelalter liest, fragt man sich, wie präsent die Verletzlichkeit des Körpers damals war.

Die war sehr präsent. Die Medizingeschichte etwa zeigt, dass der Körper des vormodernen Menschen immer wieder ein Körper der Schmerzen war. Wenn man gegen Schmerzen nicht einfach ein Aspirin einwerfen kann, sondern auf deutlich weniger effiziente Mittel angewiesen ist, wird der Schmerz vertraut – und auch die Fragilität des Körpers.

Aber das hinderte die Menschen nicht daran, den sozialen Aufstieg anzustreben?

Das Streben nach Macht und Aufstiegsmöglichkeiten lässt sich immer wieder beobachten – und es steht den Zeitgenossen klar vor Augen, dass dieses Streben immer mit Gefahren verbunden ist. Wir sehen das an einer nicht enden wollenden Literatur, die genau diese Dynamik beschreibt: Aufsteigerfiguren, die als Arrivisten wahrgenommen und für ihre Karriere kritisiert werden, die sie über ihren eigentlichen Rang befördert – und deren Fall als moralisches Exempel beschrieben wird.

In einem Aufsatz schildern Sie, wie bei Fürstentreffen spezielle Konstruktionen gebaut wurden mit Löchern, durch die hindurch sich die Herrscher die Hand geben konnten. Was ist das für eine sonderbare Gleichzeitigkeit von Annäherung und Misstrauen?

In der Tat, aus der modernen Perspektive betrachtet ist das ein Widerspruch: auf der einen Seite Vertrauen demonstrieren zu wollen durch körperliche Nähe und gleichzeitig deutlich sichtbare Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Hier muss man den Blick öffnen für die Geisteswelt des 15. Jahrhunderts: Es ist eine Zeit, in der wir vor allem in Frankreich eine ganze Reihe politischer Attentate beobachten können, die den Zeitgenossen auch vor Augen stehen. Und gleichzeitig hängt man noch dem Ideal des vollkommenen sozialen Ausgleichs an: Ein Friedensschluss soll nicht nur pro forma den Kampf beenden, sondern tatsächlich Harmonie stiften. Der Gedanke, den man verfolgt, ist, dass man über die körperliche Berührung eine Verschmelzung und Harmonie der Seelen herbeiführen kann. Das sehen wir bei ganz unterschiedlichen Gesten, mit denen man die körperliche Nähe provoziert, um einen wirklich harmonischen Austausch etwa zwischen ehemaligen Konfliktparteien herbeizuführen.

47, ist Professor für Geschichte des Mittelalters an der Ruhr-Universität Bochum. Eines seiner Forschungsthemen sind Berührungen und Nähe­gesten im Mittelalter.

Wann wurde der Handschlag eine allgemeine Geste, die jenseits des Bereichs der Herrscher und Höfe praktiziert wird?

Wir sind seit etwa dem 19. Jahrhundert daran gewöhnt, dass die Menschen, denen wir in der Öffentlichkeit begegnen, neutral sind. Das ist eine Selbstverständlichkeit, die in der Vormoderne nicht da ist. Wenn Sie einem Unbekannten begegnen, noch dazu in einer unbekannten Situation, kann er Freund oder Feind sein, es ist immer das Potenzial der Gefahr da. In diesem Rahmen sind Begrüßungsgesten extrem wichtig, sie können in der Distanz durch Verneigung oder Hutheben geschehen oder in der Nähe durch Handschlag. Der hat zunächst eher Vertragscharakter, aber geht in den städtischen Gesellschaften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in den Grußcharakter über.

Sie schildern auch das Schicksal eines Henkers, der Herzog Johann Ohnefurcht von Burgund die Hand hinhielt – und daraufhin hingerichtet wurde. Da spürt man, wie gefährlich die Überschreitung der Regeln ist.

Die körperliche Berührung ist je nach sozialem Kontext eine hochgradig schwierige Sache. Wir verarbeiten das in unser stark individualistisch geprägten Gesellschaft mit Vorstellungen der Intimität, des Eindringens in die körperliche Privatheit. Für die Vormoderne, zum Teil aber auch für unsere Zeit, hat die Grenzziehung sehr stark mit sozialen Rollen und damit auch mit dem Aufrechterhalten der sozialen Ordnung zu tun. Dieser Henker ist Capeluche, der Anführer einer populären Partei im gärenden Paris. Capeluche steht eigentlich auf der Seite der Burgunder, die wieder in die Stadt hineinkommen, angeführt von Herzog Johann Ohnefurcht, und Capeluche streckt ihm die Hand entgegen, ohne dass der Herzog weiß, wessen Hand er nimmt. Damit maßt der Henker sich an, sich mit einem Fürsten auf eine Ebene zu stellen. Das ist unerträglich in einer stark auf Rang und Hierarchie aufgebauten Gesellschaft.

Das heißt, es geht weniger um die Gefahr für Leib und Leben des Herrschers als um die symbolische Überschreitung?

Wenn man den Akt nicht sanktioniert, riskiert man eine Infragestellung der Grundlagen der gesamten Ordnung. Das ist bei Johann Ohnefurcht so, bei dem die Frage des sozialen Rangs im Vordergrund steht. Ein anderes Beispiel sind die gesalbten Könige: Den Gesalbten des Herrn zu berühren, ist natürlich zudem mit einem religiösen Tabu verbunden.

Gleichzeitig ist ein Bestandteil der Zeremonie, dass die Pairs de France, die Hochadligen, den König auf den Mund küssen. Für den heutigen Betrachter ist auch das sehr fremd.

Für uns heute ist der Kuss auf den Mund hochgradig intim, wenn nicht sexuell konnotiert. Im Rahmen des Lehnsystems des hohen und späten Mittelalters ist ganz klar, dass beim Eingehen des Lehensverhältnisses eine Abfolge ritueller Akte erfolgt. Man muss sich vorstellen: Zwei freie Männer begeben sich in ein Rechtsverhältnis, bei dem der eine Herr sein wird und der andere sein Gefolgsmann. Das heißt, wir haben Gesten der Unterordnung: Der Gefolgsmann kniet, er legt seine Hände in die des Herrn. Dann wird er aber wieder buchstäblich aufgehoben, um ihn auf den Mund zu küssen. In diesem Akt der symbolischen Gleichrangigkeit ist der Kuss auf den Mund ein Zeichen der Gleichordnung und zugleich ein Instrument, dass das harmonische Verschmelzen der Seelen bewirken soll.

Kennt das Mittelalter das Abstandhalten als eine Praxis gegen die Übertragung von Krankheiten?

Die Quarantäne ist erst als verzögerte Reaktion auf die Pest im späten 14. Jahrhundert in den italienischen Hafenstädten entstanden. Zuvor hat man bereits die Ausgrenzung bestimmter Gruppen, etwa Lepröser, durch örtlich unterschiedliche Praktiken, etwa dadurch, dass sie Glocken tragen müssen. Da geht es aber nicht nur um Ansteckung, sondern auch darum, symbolisch den Kontakt zu vermeiden mit einer Gruppe, die als unehrenhaft gilt. Ab dem Spätmittelalter legte man für sie spezielle Orte außerhalb der Stadttore an, um ihnen im Sinne der christlichen Caritas eine Existenz zu ermöglichen – aber fern der restlichen Gesellschaft.

In Kleingruppen kann man sehr unterschiedliche Reaktionen beobachten. Dass man nicht wie in den heutigen Coronazeiten versucht, flächendeckend Abstand zu halten, beruht auch darauf, dass man den Hintergrund der Krankheit in anderen Phänomenen verortet. Das können Ausdünstungen sein – dann empfiehlt sich Abstand und die Kleider der Toten werden verbrannt. Aber was wir nicht haben, ist die Vorstellung von Kleinstwesen wie Bakterien oder Viren, die Krankheiten übertragen.

Galt die Ausgrenzung der ­Leprakranken unabhängig von ihrem sozialen Stand?

Das ist eine schwierige Frage. Ich fürchte, dass für die Reichen und Mächtigen andere Bedingungen galten. Im 12. Jahrhundert sieht man das sehr schön an der Geschichte König Balduins von Jerusalem, der über Jahre hinweg leprakrank ist und trotzdem weiter als König in seinem Reich agiert.

Gab es damals überhaupt die Vorstellung, dass man sich gegen eine Epidemie auflehnen kann, oder betrachten die Zeitgenossen Krankheiten wie die Pest als eine Strafe Gottes, bei der Widerstand ohnehin sinnlos ist?

Da muss man differenzieren. Genauso wenig wie wir heute absolute Einigkeit haben über angemessene Reaktionen auf Corona, genauso wenig gibt es homogenisierte Einstellungen in den mittelalterlichen Kulturen Europas.

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