Die Wahrheit: Schon brennt die Luft!

Ein neuer Trend greift in der großen Krise um sich: Die Nerven liegen blank, und immer mehr Leute drehen komplett durch.

Ein Mann, blutverschmiert mit einer Axt in der Hand, guckt in die Kamera

Mancher möchte jetzt am liebsten aus der Haut fahren und durchdrehen Foto: reuters

„Abrakadabraaaa!“ Johann Petersiel strahlt sein Publikum an und verbeugt sich in die Kamera: „Und Puff! Weg ist sie!“ Er deutet einen zarten Kratzfuß an, während spärlicher Applaus auf sein Facebook-Profil niederregnet wie ein sanfter Frühlingsschauer in glücklicheren Zeiten. Petersiel (42) ist eigentlich Klempner, hat sich im vergangenen Monat zu Hause das Zaubern beigebracht. Nun verzaubert er einmal pro Woche per Livestream von der heimischen Videokamera aus sein Publikum an den Bildschirmen – und heute eben auch eine ausgewachsene Mohrrübe, die wie von Zauberhand aus seiner Faust verschwindet.

Doch was ist das Ergebnis? Eine verschwundene Möhre – und 35 lächerliche Likes für so eine bravouröse und dazu kostenlose Darbietung? Darunter nur zwei Herz-Likes? Das gleicht einer öffentlichen Demütigung. In Johann Petersiel beginnt es zu kochen, er flippt aus, sein Heimstudio zwischen den Wohnzimmerschränken geht zu Bruch. Er „dreht“, so werden es die wenigen verbliebenen Zeugen seiner Live-Darbietung später berichten, „regelrecht durch“. Sogar die Wohnzimmerschränke haut er zu Kleinholz. So wie Johann Petersiel geht es immer mehr Menschen in Deutschland. Alle paar Minuten klinkt einer aus, geht in die Luft, „dreht durch“, wie der wissenschaftliche Fachausdruck für derlei extravagantes Verhalten lautet.

Dabei sind es nicht nur verzärtelte Künstlertypen wie Johann Petersiel, denen die Charaktermaske verrutscht – es sind auch Menschen wie Natascha Papke (21), die bei einem großen Discounter an der Kasse sitzt. Und eben mitten in der Nachmittagsschicht ihre Gummihandschuhe von sich schleudert. Ein Kunde, ein zeternder Greis, versucht mit einer ungültigen American-Express-Karte zu bezahlen. Papke läuft rot an, während sie dem Alten beim Faseln zuhört, dann explodiert sie. Am Ende liegt die Kasse in Trümmern, Frau Papke muss von der eilends herbeigerufenen Polizei abgeführt werden.

„Es ist bestimmt jedem schon mal passiert“, beruhigt Dr. Heribert von Festensteyn (54), Betriebspsychologe bei Opel in Rüsselsheim. „Eine Winzigkeit beginnt zu nerven, und zack! Man tickt einfach unrund, verliert die Kontrolle, demoliert seine Umgebung. Normal.“ Der Anlass spiele übrigens keine Rolle, wirft der Psychologe ein. „Manche packt’s beim Shopping, andere bei der Arbeit, wieder andere beim Kegeln, manche sogar auf dem Klo.“

Geprellte Zehen

Besonders häufig sei ein nächtens am Bettpfosten geprellter Zeh für das Durchdrehen verantwortlich, so habe die Rekonstruktion Hunderter Fälle ergeben. Aber fast genauso oft überfüllte öffentliche Verkehrsmittel, die auf offener Strecke haltmachen, so Dr. Festensteyn: „Untrügliches Zeichen: Da ist so ein grellweißes Leuchten, das brennt, als ob du am offenen Hirn operiert wirst – und schon brennt die Luft!“

Bei vielen Leuten lägen die Nerven halt blank, berichtet der Psychologe aus seiner beruflichen Praxis. „Anders gesagt: Durchdrehen wird für immer mehr Leute eine ernsthafte Option. Mein Tipp: Cool bleiben, das wird schon wieder. Okay?“ Andere Experten raten allerdings, sich von der Panik anstecken zu lassen, solange es noch prickelt. Und wiederum dritte vertreten die extreme Außenseiterposition, dass gepflegtes Durchdrehen gut für unsere seelische und spirituelle Gesundheit ist, so zum Beispiel Professor Helmut Mutzker (38) von der Universität Marburg.

Bäume niederbrennen

„Wie das schöne Sprichwort schon sagt: Wer durchdreht, hat mehr vom Leben“, lacht der renommierte Filmwissenschaftler begütigend. „Man macht neue Erfahrungen, spürt sich ganz anders, wächst über sich hinaus und zerdeppert dabei alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist – anschließend brennt man die Bäume nieder, hehe.“ Der Wissenschaftler führt gerade ein aufsehenerregendes Experiment durch. Er schaut den Film „Meg“ über die Rückkehr eines prähistorischen Riesenhais und die HBO-Serie „Chernobyl“ über das beliebte Reaktorunglück parallel, um darüber einen Forschungsaufsatz zu schrei­ben. „Es ist irre“, sagt Mutzker schon nach wenigen Stunden und zieht hektisch an seiner Zigarette, „in beiden Narrativen geht es darum, dass der Mensch die Natur herausfordert und in maßloser Selbstüberschätzung und mit einem gerüttelten Maß an Vertuschungsenergie die große Katastrophe heraufbeschwört. Man kann nicht glauben, dass Menschen so doof sind! Irre!“

Was will uns das sagen, wollen wir von ihm wissen. „Das liegt doch auf der Hand!“, schreit uns Professor Mutzker über Skype an. „Ich dreh langsam durch!“ Seine Schreie gellen auf gespenstische Weise durch den Äther, dann bricht die Übertragung ab.

Schade. Eigentlich können wir in der Lage, in der wir uns befinden, auf Menschen wie Professor Mutzker, die uns Geduld lehren und Mut machen, nicht verzichten. Es scheint nämlich, als wäre er einer ganz heißen Sache auf der Spur gewesen, die vollständig aufgeklärt gehört. Bevor wir hier noch alle durchdrehen!

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