Süße Muße

Keine Termine. Keine Eile. Keine Hetze: Über die positiven Seiten der Entschleunigung

In Berlin sieht man mehr Spaziergänger. Und die Menschen halten Abstand zueinander Foto: Alle Fotos: Anja Weber

Von Alke Wierth

Ich habe keine Eile. Ich habe Zeit. Wie oft habe ich diesen Satz in den vergangenen Tagen und Wochen gesagt, gedacht? Und jedes Mal löst er so ein kleines, warmes Glücksgefühl aus und pflanzt mir ein Lächeln ins Gesicht: Zeit! So viel Zeit. Keine Termine. Keine Eile. Keine Hetze. Was für ein Luxus!

Natürlich: Was mir diesen unerwarteten Luxus erlaubt, ist kein Grund zur Freude. Es ist eine tödliche Epidemie, und es sind die Maßnahmen, die diese eindämmen sollen: „Social Distancing“, Kontaktverbote also, noch immer geschlossene Geschäfte (ab Ende nächster Woche soll das anders werden), geschlossene Gastronomie, Kinos, Theater und so weiter. Eine in vieler Hinsicht existenzielle Bedrohung für sehr viele Menschen: physisch vor allem, aber auch psychisch, ökonomisch.

Und natürlich bin ich in vielerlei Hinsicht privilegiert: Als Journalistin arbeite ich trotz beziehungsweise wegen Corona weiter. Ich habe keine Einkommenseinbußen. Ich kann meine Wohnung weiterhin bezahlen. Ich verfüge über die Technik, um trotz Kontaktsperren Kontakt zu meinem Umfeld, zu Informationen zu halten. Ich bin nicht auf die Hilfe anderer angewiesen: Ich kann anderen helfen. Auch das ist Luxus.

Ausgangsbeschränkungen werden um eine Woche bis zunächst 26. April verlängert. Der Senat will nach dem Corona-Lockdown die Ein­schränkungen langsam lockern, aber nicht zu schnell vorgehen. Wichtige Entscheidungen sollen kommenden Dienstag fallen.

Schulen zum Beispiel öffnen schrittweise, als Erstes sind die Zehntklässler ab 27. April dran (siehe Seite 42). Abiturprüfungen finden statt, sie sollen am 20. April starten, zunächst in Latein.

Geschäfte Ab Mittwoch oder Donnerstag wieder auf – aber: Läden (mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 Quadratmetern) müssen Abstands- und Hygiene­regeln einhalten, das Personal muss geschult werden.

Friseure Wohl ab 4. Mai sollen Friseure wieder öffnen dürfen. Allerdings sollen Beschäftigte gegen Ansteckung Schutzkleidung und Masken tragen, die Kunden Masken. (dpa)

Was mir das Virus nimmt: Termine, Verpflichtungen. Stress und Eile. Der Arzttermin vor der Arbeit, der Friseurbesuch danach. Der Sportkurs, das Konzert, Kino mit Freunden – wann schaffe ich den Einkauf? Milch ist alle! Druckerpatronen auch! Und am Wochenende kommen Freunde, da muss vorher doch noch geputzt werden … Und diese Ausstellung! Die schließt doch am Sonntag!

Hin und her also in überfüllten Bussen und Bahnen oder auf verstopften Straßen und Fahrradwegen durch eine Stadt, in der sich auf den Treppen zur U-Bahn Menschen Schulter an Schulter drängeln, mit Fahrrad oder E-Roller auf Gehwegen durch Fußgängermassen schlängeln, vor den Umkleiden und Kassen der Shopping Malls ebenso wie vor Clubs und Museen lange Schlange stehen. An der Kasse im Supermarkt wird zur Eile gedrängt, das Gekaufte im Laufschritt nach Hause gebracht. Nur schnell, schnell! Es muss noch so viel getan, es darf so vieles nicht verpasst werden!

Doch nun wird nicht mehr gemusst. Auch zu verpassen gibt’s nichts mehr. Termine, Verpflichtungen, Verabredungen werden abgesagt. Die meisten Menschen bleiben meist bei sich zu Hause. Sind sie draußen, bleibt genug Platz, die Distanz, die jetzt Vorschrift ist, zu wahren. Man gibt den anderen Raum, kein Gedrängel mehr, keine Hetze. Schlendern statt rennen: eine entspannende Art der Fortbewegung. Die Zeit draußen will genossen, der einkehrende Frühling kann gewürdigt werden.

Wer jetzt einkaufen geht, weiß, dass das Zeit braucht, Zeit kostet: Zeit hat einen Wert! Bisher wie nebensächlich schnell und in Eile Erledigtes bekommt so eine neue und nachdenkenswerte Dimension: Was habe ich mir bisher bloß alles in einen Tag gepackt? Musste das wirklich so sein?

Soziologische Annahme: Die beiden hier dürften sich gut kennen und wohl auch zusammenleben

Jetzt heißt es: Geduld üben. Sich für das, was zu tun ist, Zeit nehmen. Es mit und in Ruhe, mit Muße tun. Muße – ein fast vergessenes Wort und ein fast vergessener Zustand. „Freie Zeit und (innere) Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht“, erklärt der Duden.Entsprach denn das, was mich bisher so getrieben hat, nicht meinen Interessen?

Doch! Es muss ja jetzt auch auf viel Schönes und Wichtiges und Richtiges verzichtet werden: das Angrillen im Garten der Freunde. Der Abend in der Bar. Die Eröffnung des Strandbads Wannsee. Die Nachhilfe mit den Kindern im Jugendheim. Das Picknick auf dem Tempelhofer Feld. Frühjahrsklamotten shoppen mit der Freundin! Der Osterurlaub bei den Eltern oder an der See. Der Sportkurs, das Kino, die Ausstellung …

Social Distancing gilt auch für Hunde, oder!?

Wow, denke ich, während ich das aufschreibe: Was für Möglichkeiten ich hatte und irgendwann wieder haben werde, welche Angebote ich nutzen kann in dieser Stadt! Luxus! Was aber in all den Angeboten, die genutzt werden wollen, verschwindet: freie Zeit, ohne Action, ohne Eile, ohne Interaktion und Kommunikation, ohne etwas, das noch schnell erledigt werden muss. Muße.

„Die freie Zeit und (innere) Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht“: Muße ist demnach die Voraussetzung dafür, das zu tun, was einem schön, wichtig und richtig ist, Freude macht, nützt. Wenn es eben nicht in besinnungsloser Hetze, sondern besonnen, bewusst, in Ruhe geschieht; wenn man sich Zeit dafür nimmt, dem Zeit widmet, was im eigenen Interesse liegt. (Auch Nichtstun kann den eigenen Interessen entsprechen, Einkaufen sowieso).

Meine Lehre aus der Krise: Zeit ist nicht knapp. Vermutlich gibt es sogar endlos viel davon. Es ist bloß nicht klar, wie viel davon jeder Einzelne bekommt. Deshalb ist sie wertvoll, deshalb, nehme ich an, denken wir stets, wir müssten sie gut nutzen. Doch Zeit dehnt sich nicht aus, wenn man sie vollstopft. Im Gegenteil: Sie wird dadurch knapp. Vielleicht ist es besser, zu fragen: Was hat meine wertvolle Zeit verdient, was ist mir meine Zeit wert?