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: Ein Feiertag für die Mittelklasse

Als ich den Paketboten neulich, um nett zu sein, frage, ob er nun viel mehr arbeiten müsste, kam die erschütternde Antwort: „Man ist zufrieden“

Im alten China ließen die Mandarine – die Beamten des Kaisers – ihre Fingernägel extralang wachsen. So signalisierten sie, dass sie nicht mit den Händen arbeiten mussten und etwas Besseres waren als das einfache Volk. Das Äquivalent zu diesen überlangen Fingernägeln ist in Zeiten der Corona­krise das „Homeoffice“.

Wer nicht im Homeoffice tätig ist, muss trotz Ansteckungsgefahr und meist ohne Schutzmaske systemrelevant knuffen: Post zustellen; Müll abholen; Apartmenthäuser mit bodentiefen Fenstern fertig bauen; im Amazon-Logistikzentrum im Laufschritt die Bestellungen zusammensammeln. Und ist unter Umständen sogar noch froh darüber, dass er Arbeit hat. Als ich den Paketboten neulich, um nett zu sein, fragte, ob er nun viel mehr arbeiten müsste, kam die erschütternde Antwort: „Man ist zufrieden.“

Der Rest der Menschheit simuliert mit dem Laptop am Küchentisch produktive Tätigkeit, guckt viel zu oft in die Facebook-Timeline und in ganz tragischen Fällen auch nach dem TikTok-Feed und beschwert sich bei Twitter über die nervenden Kinder im Wohnzimmer. Das sind die Leute, die normalerweise ihre Tage damit verbringen, unglaublich wichtige Meetings zu organisieren und sich „Projekte“ aus den Fingern zu saugen. Oder tagelang an alles entscheidenden „Präsis“ herumzudoktern, als müssten sie die Weltformel bekannt machen. Oder aber launige Texte wie diesen hier verfassen, die den Leser erst mit flotter Schreibe „mitnehmen“, ihn aber zuletzt mit einem „Denkanstoß“ wieder „entlassen“.

Während andere Bürodrohnen ohne den gewohnten Trott Schwierigkeiten haben, ihren Tag zu organisieren, hat der freie Autor sich im jahrelangen Kampf gegen den inneren Schweinehund selbst gedrillt, Disziplin zu wahren. Auch mit dem Tablet auf dem Sofa wird nicht „prokrastiniert“, sondern es werden Ergebnisse geliefert. Na ja, man versucht’s zumindest.

Zur Routine des selbstständigen Geistesarbeiters gehört es auch, das eigene Reproduktionsvermögen dadurch zu sichern, dass man in Form bleibt – in Quarantänezeiten entweder auf der in der Zimmerecke zusammengerollten Yogamatte oder beim Joggen oder Radfahren.

Draußen auf der Straße findet man sich bei grellem Sonnenschein und gar nicht frühlingshafter Kälte in der Gesellschaft von anderen Unterbeschäftigten wieder. Nach Quarantäne und Lockdown sieht das hier nicht aus, eher nach einem Feiertag nur für die Mittelklasse. Die steht am wieder geöffneten Hipstercafé für einen Pappbecherkaffee mit Sicherheitsabstand Schlange. Oder sieht mit einer Flasche Tyskie-Bier in der Hand dem Nachwuchs beim Radfahren auf dem Bürgersteig zu. Aus gebührender Distanz tauscht man sich über die Herausforderungen des Homeoffice aus. Schnell weg.

Die angesteuerte Königsheide entpuppt sich nach zwanzig Minuten Radfahrt als ein etwas schäbiges Stück Stadtwald, in dem man überall aus der Ferne Verkehrslärm hört. Faszinierend allerdings die Anlage des ehemaligen DDR-Kinderheims Makarenko, die in eine öde Wohnanlage für Gutbürger verwandelt wurde. Die leben nun in schlichten, grauen Bauten aus den frühen 50er Jahren mit Wandreliefs, auf denen Jungpioniere musizieren, Ball spielen und Fahnen herumtragen.

Ein einsamer Vater mit zwei Töchtern, die komplett in verschiedenen Rosatönen gekleidet sind und auf rosafarbenen Kinderrädern fahren, vervollständigt den Eindruck der Trostlosigkeit. Weiter zum Plänterwald, wo sich die Spaziergänger auf den Wanderwegen und am Spreeufer näher kommen als die rumänischen Spargelstecher im brandenburgischen Vierbettzimmer.

Auf dem Heimweg fallen mir die Mandarine mit den langen Fingernägeln als Einstieg für diesen Text ein, und ich bekomme wegen einer Stunde Herumradelns ein schlechtes Gewissen. Tilman Baumgärtel