Ligia Lewis über Corona und Theater: „Ich mag Monster“

Ein Gespräch mit der Choreografin Ligia Lewis über die Geschichte der Sklaven und die Bedeutung des Unbekannten für ihre Arbeit.

„Berührung ist etwas so wesentliches“, sagt die Choreographin Ligia Lewis Foto: Dorothea Tuch

Ligia Lewis widmet sich als Choreografin dem Unheimlichen, Unaussprechlichen, Unbegreiflichen. Sie findet diese Stoffe durch einen genauen Blick in die westliche Kunst- und Theatergeschichte. Im Interview spricht sie von Los Angeles aus über Rückzugsorte und das Untergraben von europäischem Universalismus.

taz: Ligia Lewis, Sie sitzen zurzeit wegen Corona in Los Angeles fest. Warum dort?

Ligia Lewis: Ich kam gerade aus Paris, wo die Aufführungen meiner Stücke abgesagt wurden. In L. A. war die Situation noch unklar. Ich sollte eigentlich an einer neuen Arbeit für die Made in L. A. Biennale arbeiten. Inzwischen wurde sie natürlich verschoben. Aber die Stadt ist in den letzten Jahren zu einer Art zweiten künstlerischen Heimat für mich geworden. Auch wohnen inzwischen meine ältere Schwester und mein Zwillingsbruder hier.

Wie ist die Stimmung?

Es fühlt sich drückend an. Wie bekannt ist, waren die USA sehr spät dran mit Auflagen zum Schutz der Bevölkerung. Was verrückt ist in einem System, in dem es keine Krankenversorgung für alle gibt. Als die Auflagen dann kamen, kamen sie vehement. Ich darf nur zum Essenkaufen raus, dazu muss ich Maske und Handschuhe tragen. Die Parks, die Strände sind dicht, kein Sport draußen. Los Angeles wirkt wie eine Geisterstadt. Gleichzeitig leben sehr viele obdachlose Menschen hier, und wir wissen, dass sich das Virus vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten, auch unter den People of Color, ausbreitet, was viel über die sozioökonomische Realität des Systems erzählt. Die Krise stellt ganz deutlich aus, was strukturell in diesem Land nicht gut läuft.

Ligia Lewis wurde in der Dominikanischen Republik geboren, wuchs in Florida auf und lebt in Berlin. In ihrer Trilogie „Sorrow Swag“, „minor matter“ und „Water Will (in Melody)“, die eigentlich vom 15. – 18. April in den Berliner Hebbel-am-Ufer-Theatern im Rahmen einer Werkschau gezeigt werden sollte, beschäftigt sich die Choreografin und Tänzerin, jeweils mit ausgeklügelten Musikkonzepten, vor allem mit den Ästhetiken von Romantik, Moderne und viktorianischen Theater aus Schwarzer Perspektive.

Wie ist die Situation für die Kunstwelt?

Schwierig. Es gibt, anders als in Deutschland, keinerlei unterstützende Systeme. Das wirft Menschen sehr auf ihre individuellen sozioökonomischen Kontexte zurück und jede_r ist sozusagen mit der Krise allein.

Ihr jüngstes Stück „Water Will (in Meldoy)“ könnte man für das Stück der Stunde halten, auch wenn es nicht im Kontext der Virologie entstand. Sie arbeiten stark mit der Angst vor dem Unheimlichen, mit der Unsicherheit des Nichtwissens.

Es ist dunkel, gothic, grotesk, viktorianisch, dystopisch. Es fühlt sich an, als hätte die Krise mein Stück realer gemacht. Meine Arbeit findet im Kontext einer jahrhundertelangen Geschichte von Rassenterror statt, aber sie ist mehr als nur „schwarz“ und „weiß“. Sie spielt mit den Bedeutungsebenen dieser Kategorien, um die Erfahrung von Menschen zu verhandeln, die sich außerhalb herrschender Kategorien befinden.

Der Ausdruck davon ist in Europa und den USA unterschiedlich.

In den USA ist Rassismus offensichtlich. In Europa dagegen sind die Dinge unterschwelliger, psychologischer. Es herrscht eine Art Universalismus, der jedoch für all diejenigen nicht gilt, die nicht ins Konzept weißer Subjektivität passen.

Ihr Ausgangspunkt ist die Geschichte des Spektakels.

Ja, vor allem in einem amerikanischen Kontext, wo die sogenannte Minstrelsy ihren Einzug ins Entertainment durch Blackfacing, und damit gewaltbeladene Charakterisierungen Schwarzer Menschen, fand. Die Minstrelsy bediente sich einer performativen Grammatik, die ursprünglich von Schwarzen Menschen als Form von expressivem Widerstand und Unterhaltung füreinander entwickelt wurde.

Aber an dem Punkt, an dem diese Ästhetiken in Hollywood Einzug erhielten, entstand diese sehr brutale Konstruktion von Schwarzsein. Darum schreien die deutsche Schauspielerin Susanne Sachsse und ich den provozierenden Satz „Whitey has to die!“. Weißes Patriarchat muss sterben. Als Symbol. Damit etwas anderes hervortreten kann. Und zwar im Theater, innerhalb dieser jahrhundertealten Praxis des Sehens, dieses fürchterliches Blicks, der besagt, „weiß“ bedeutet dies und „schwarz“ das. Die Etymologie des Theaters hat mit Sehen, mit dem Blick auf den anderen, zu tun.

Wäre es dann nicht konsequent, um sich aus den Poli­tiken der Sichtbarkeit zu be­wegen, das Theater zu verlassen?

Ligia Lewis

„Wir ziehen uns in die Dunkelheit zurück, in eine dunkle Höhle“

Ja und Nein. Ich glaube immer noch an Aufführungen und Verkörperungen im Theater. So viel kann an diesem „Ort des Sehens“ danebengehen, aber vieles wird auch erst noch passieren. Das Theater ist ein perfekter Ort, um Geschichte und andere Zeitphänomene zu befragen, sie zu antagonisieren, um Neues entstehen zu lassen. Damit spiele ich, wenn ich sage: „Ich verlasse den Rahmen.“ Wir ziehen uns dann in die Dunkelheit zurück, in eine dunkle, feuchte Höhle. Ich liebe es, expressive Konzepte aus Problemen und Fragen, die sich mir stellen, zu entwickeln. Unser Rückzug, der Moment der Fugitivität, wird zu einer Möglichkeit, mit dem Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem zu spielen.

Sie haben Fugitivität erwähnt. Dazu gibt es weitere Hinweise in „Water Will“, die mit Schwarzer Geschichte, zu tun haben, die hier wenig bekannt ist.

Die sogenannten Swamplands [Sumpfgegenden der Südstaaten] sind ein wichtiges Symbol, ein Tropus für Schwarze Fugitivität. Es war notwendig, dass diese Orte dunkle Räume waren, Räume, wo geflüchtete Sklaven sich verstecken und andere Lebensformen entwickeln konnten. Gewissermaßen benutze ich das Wissen darum, um meine Poetik zu entwickeln. Es befeuert meine persönliche Romanze mit dem Unbekannten, Versteckten, nicht sofort Durchschaubaren. Wie können wir das Nichtsichtbare Teil des Sehens werden lassen? Wie können wir das, was außerhalb der Grenzen des Sprachlichen stattfindet, zulassen? Oder auch: Wie können wir Handlungsfähigkeiten an Körper verleihen, die außerhalb des Blicks, der Ordnung des Blicks, fallen?

Illustriert durch Grimms Märchen „Das eigensinnige Kind“ zeigen Sie in Ihrem Stück Gehorsamsmoral als Antwort auf die Unsicherheiten, die entstehen, wenn wir dem Unbekannten, Nichtidentifizierbaren ausgeliefert sind.

Das ist der Stoff von Fabeln und Märchen. Sie bauen auf Gehorsamkeitsmoral auf: Verhalte dich so, wie die Welt es für dich bestimmt. Aus dieser Selbstverkapselung brechen wir aber aus, so weit, dass wir zu Monstern werden. Ich mag Monster. Ich fühle mich manchmal wie eines. Sie stören die Ordnung der Dinge.

Nun ist Gehorsam das Gebot der Stunde zu Corona-Zeiten.

Es kommt auf die Art von Gehorsam an, über die wir sprechen. Ich tendiere zu sozialem Anarchismus. Aber wenn wir über Fürsorge sprechen, dann ist es etwas anderes als blinder Gehorsam. Niemals würde ich social distancing außerhalb des Rahmens einer Pandemie akzeptieren. Berührung ist etwas so Wesentliches!

Vielleicht fehlt uns auch die Fantasie für eine sinnvolle Art des Störens der Ordnung?

Diese Möglichkeit sollten wir einbeziehen, wenn wir in unseren Häusern sitzen und darüber nachdenken, wie wir auf das, was sicherlich jetzt kommen wird –Wirtschaftskrise, neuer Konservatismus – reagieren können.

Dieses Nachdenkenkönnen ist ein Privileg weniger.

Ja, solange es ein Privileg ist, sollten die von uns, die es haben, sehr verantwortungsvoll damit umgehen.

Eigentlich ist Berlin derzeit Ihr Zuhause. Zeitweise waren auch all Ihre Geschwister hier und haben im Kulturleben mitgemischt. Was macht Berlin so interessant für Sie?

Das kulturelle Angebot. Und die Tendenz der Kunst- und Kulturszene, politisch zu denken und zu arbeiten. Die Stadt versammelt viele Leute, die unzufrieden sind mit den Bedingungen und den politischen Systemen, unter denen sie aufwuchsen oder unter denen sie lebten und die Berlin als Möglichkeit sehen, Dinge anders zu machen. Es ist eine Stadt der Dissidenten.

Haben Sie von den Rauchwolken über dem Berliner Humboldtforum letzte Woche gehört? Und, bevor sie sich als harmlos herausstellten, auch erst gedacht, dass es ein Sabotage-Akt der Kunstszene war?

Hm. Zurzeit scheint Karma sehr interessante Ausdrucksformen zu finden.

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