die woche in berlin
: die woche in berlin

Grundlos die Wohnung zu verlassen kostet jetzt 100 Euro wegen des neuen Bußgeldkatalogs der Corona-Eindämmungs-Verordnung. Berliner:innen bleiben und sind trotzdem solidarisch in der Krise. Nur Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) bleibt unsolidarisch und hält Tegel offen, obwohl es Millionen kostet

Leider
gefährlich
blöde

R2G erhebt Bußgelder für Verstöße gegen Kontaktverbot

Nun können alle Berliner*innen in Ansätzen mal selbst erleben, wie sich dieses Racial Profiling anfühlen muss. Denn jetzt kann jeder bestraft werden, weil er wo ist, wo er nach Ansicht der Behörden nicht zu sein hat, oder weil er mit zu vielen Leuten von der falschen Sorte unterwegs ist.

Denn der Senat hat am Donnerstagabend Geldstrafen für Verstöße gegen die Corona-Eindämmungs-Verordnung verhängt. Die sind nicht von Pappe: Bis zu 500 Euro werden fällig, wenn mehr als zwei Personen, die nicht im selben Haushalt leben, draußen „eine Gruppe bilden“ oder der vorgeschriebene zwischenmenschliche Abstand von 1,50 Metern nicht eingehalten wird. Bis zu 100 Euro muss zahlen, wer seine Wohnung „ohne triftigen Grund“ verlässt.

Dabei hat die Polizei seit dem 23. März, als die verschärften Kontaktverbote in Kraft traten, bis zur Verhängung dieses Bußgeldkatalogs in der 3,8-Millionen-Einwohner-Stadt Berlin laut dpa lediglich 462 Verstöße gegen die Verbote festgestellt. Noch am Donnerstagabend hat Regierungschef Michael Müller (SPD) die Berliner*innen dafür gelobt, sich in dieser Situation vorbildlich zu verhalten. Dennoch haben sich SPD, Linke und Grüne entschlossen, ihre Bürger*innen lieber nicht als vernünftig und verantwortungsvoll, als mündig anzusehen.

Deshalb ist nun jede*r ein Verdachtsfall und muss damit rechnen, stets und überall von Polizist*innen mit Fragen nach dem Grund seines Da-Seins, seinem Wohin und Woher und mit diffusen Vorwürfen konfrontiert zu werden: Waren das 1,50 oder nur 1,28 Meter? Wer hat den Abstand unterschritten: ich oder der andere? Auslegungssache. Klar ist aber, wer auslegt: die, die es können. Weil sie die Staatsgewalt sind.

Es ist enttäuschend, dass sich eine rot-rot-grüne Regierung zu diesem Schritt hat hinreißen lassen. Und es ist falsch. Denn erstens zeigt es den Berliner*innen, wofür ihre Regierung sie hält. Für gemeingefährlich blöde nämlich: selbst angesichts einer tödlichen Krankheit, die jede*n von ihnen bedroht, nicht fähig, verantwortungsvoll zu handeln – wenn man sie nicht mit Strafen dazu zwingt. Zweitens gibt es einer Polizei, die in Berlin seit Langem um ein positives Image kämpft, die Gelegenheit, sich mal wieder von ihrer schlechten Seite zu zeigen: einschüchternd, übergriffig. Und es gibt unter Berlins Polizist*innen leider immer noch manche, die diese Gelegenheit gerne nutzen werden, wie Erfahrungsberichte zeigen.

Dem Verhältnis zwischen Polizei und Bürger*innen wird das nicht guttun, ebenso wenig dem zwischen Bürger*innen und Staat. Die Menschen sehen sich mit der Coronaseuche einer unheimlichen Bedrohung ausgesetzt: eine beängstigende Lage, die seit Wochen anhält und noch Monate dauern wird. Ihnen da selbst noch mit Drohungen zu kommen, steht einer rot-rot-grünen Regierung, steht einer Demokratie nicht gut.

Sie tun es, weil sie es können: Nicht mehr die Vernunft, sondern die Macht regiert jetzt. Alke Wierth

berlin

SPD, Linke und Grüne haben beschlossen, ihre Bür­ger*in­nen lieber nicht als vernünftig und ver­ant­wor­tungs­voll, als mündig anzusehen

Alke Wierthüber den Berliner Bußgeldkatalog zum Kontaktverbot

BerlinerInnen sind plötzlich zivilisiert

Wegen Corona gibt es mehr Rücksichtnahme und Solidarität

Die Pandemie hat die Stadt ins Chaos gestürzt. Es herrscht Anomie, jeder sieht zu, wo er bleibt. KundInnen zerfleischen sich am Lidl-Regal im Kampf um die letzte Klopapierrolle. Auf geheimen Partys stößt das Jungvolk aufs vorzeitige Ableben der Alten an. PolizistInnen werden mit infiziertem Sputum attackiert, rächen sich mit brutalen Einsätzen und holen den eisernen Besen raus. Das Ende ist nah.

Nicht.

Natürlich, es gibt diese Erzählungen, wie im Angesicht der Krise alles immer schlimmer wird, manches davon wird wahr sein, und unter dem Vergrößerungsglas von Twitter und Co. sieht es noch mal besonders heftig aus. Aber die Erfahrung, die sehr viele gerade in ihrem Corona-Alltag machen, ist eine andere: Das Virus hat die BerlinInnen in ungeahntem Maße zivilisiert.

Man muss gar nicht die vielen solidarischen Gesten und Hilfsangebote bemühen, die fast genauso exponentiell wachsen wie die Infiziertenmeldungen: die Netzwerke zur Unterstützung von Lieblingskneipen und -läden, die Gabenzäune, an die Hilfswillige Tüten mit Lebensmitteln für Obdachlose hängen, Telegram-Kiezgruppen und die unzähligen Zettel in den Treppenhäusern, auf denen sich NachbarInnen für Einkäufe und sonstige Erledigungen anbieten.

Es reicht schon ein Gang auf die Straße. Wann hat man in dieser Nahkampfzone zum letzten Mal so viel Rücksichtnahme erlebt? Hätte vor der Krise irgendjemand eine Flasche Bier darauf verwettet, dass die gemeine BerlinerIn vorbildlich Schlange steht, anderen abstandsbedingt den Vortritt lässt und dabei auch noch halbwegs freundlich schaut? Sogar über komplizenhaftes Lächeln wird berichtet.

Corona-Partys? Wann gab’s wo die letzte? Ignorante Zusammenrottungen in Parks? Wirklich oder nur gefühlt? Umgekehrt fallen auch die meisten Begegnungen mit der Polizei, die zurzeit eigentlich vor Kraft kaum gehen können dürfte, erstaunlich milde aus. Irgendwie nehmen sich gerade alle ein bisschen zurück, ein völlig unbekanntes Berlingefühl.

Vielleicht ist das nur eine Momentaufnahme. Vielleicht reißen die schlechten Sitten dann doch wieder ein, wenn’s irgendwann für viele ökonomisch und emotional ans Eingemachte geht. Eine andere Erklärung scheint naheliegender: Corona entschleunigt uns dermaßen, dass wir alle gerade ein bisschen entspannen. Die leeren Straßen, das Fehlen von Staus, der Wegfall der ständigen Mikroaggressionen im Verkehr und des Gerempels auf dem Gehweg – man sollte das nicht unterschätzen.

Leider heißt das auch: Kommt alles wieder. Genießen wir’s, solange es anhält. Claudius Prößer

Kein Mensch braucht noch Tegel

Der Bund will Tegel offen halten – obwohl kaum Flüge gehen

Für die einen ist es ein unverhofftes Idyll, für andere ein finanzielles Fiasko, für dritte wiederum wirft der drastische Rückgang des Flugverkehrs eine strategische Frage auf. Zu Beginn dieser Woche betrug die Nutzung der beiden Berliner Flughäfen wegen der Coronapandemie nur noch 2,5 Prozent – verglichen mit den Vorjahreszahlen zu dieser Zeit. Und ja, das wird noch weniger werden.

Kein Wunder, dass Rot-Rot-Grün in Berlin darauf drängt, mit Tegel einen der beiden Flughäfen vorübergehend von der Betriebspflicht zu entbinden und Starts und Landungen in Schönefeld-Alt zu konzentrieren. Das schafft die Blechbude aus DDR-Zeiten schon noch.

Allerdings gehören die Flughäfen bekanntlich nicht nur Berlin, sondern zu Teilen auch Brandenburg und dem Bund. Und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), der neben vielem anderen auch die Rechenkunst leider nur ansatzweise beherrscht, sperrt sich. So fiel am Montag der Beschluss, dass Tegel zunächst offen bleiben muss.

Gleichzeitig erhielt die Geschäftsführung der Flughafengesellschaft FBB den Auftrag, den Antrag zur Schließung weiter vorzubereiten, um diese dann wohl Mitte April zu beschließen. Völlig irra­tio­nal wird – zumindest aus ökonomischer Sicht – Scheuers Blockade angesichts der ebenfalls am Montag getroffenen Entscheidung, den Flughäfen in diesem Jahr bis zu 300 Millionen Euro zusätzliches Eigenkapital als Coronahilfe zukommen zu lassen, während Tegel weiter täglich Millionenverluste macht.

Geld scheint in dieser Krise keine Rolle zu spielen.

Es ist aber nicht nur der Verkehrsminister, der das ansonsten als heilig verehrte kapitalistische Mantra vom alles regelnden Markt durch die Flugzeugtoilette spült, sondern auch die Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg (UVB). Jenseits jeder Kenntnis der Marktsituation und des globalen Ausmaßes der Krise forderte UVB-Geschäftsführer Christian Amsinck am Montag: „Tegel muss so lange offen bleiben, bis der BER verlässlich am Netz ist.“ Eine Schließung sei nicht guten Gewissens zu verantworten, schließlich könnte die hiesige Wirtschaft „schon in wenigen Wochen“ die Kapazität Tegels „dringend“ brauchen.

Also lieber staatliche Millionen verpulvern – ist ja nicht das Geld der Unternehmen.

Natürlich ist Tegel strategisch wichtig für die Versorgung der Bevölkerung. Aber angesichts der überschaubaren Starts und Landungen darf man der FBB glauben, dass auch mehr Fracht durchaus über Schönefeld ankommen könnte. Natürlich ist Tegel näher für den Politikbetrieb in Mitte. Doch der Beschluss, den innerstädtischen Flughafen zu schließen, ist kaum mehr umkehrbar – erst recht nicht in diesen flugarmen Zeiten.

Tatsächlich steht hinter dem verschwenderischen Taktieren die Angst, dass Tegel in den nächsten Wochen nicht nur vorübergehend, sondern letztlich dauerhaft dichtgemacht wird – schließlich soll Ende Oktober wirklich der BER öffnen. Mit Tegel verlöre die neoliberale FDP ihr einziges Thema und die sie hofierende Wirtschaft ihren Lieblingsnadelstich gegen Rot-Rot-Grün.

Für Berlin hingegen, vor allem den Norden, wäre das frühere Aus von Tegel eine der wenigen erfreulichen Nebenwirkungen der Coronapandemie. Und alle anderen Tegelfans würden es angesichts fehlender Flugverbindungen nicht mal merken. Bert Schulz