Ulla Lenzes Roman „Der Empfänger“: Autoritäre Muster

Ulla Lenzes Roman „Der Empfänger“ erzählt vom Verdrängen von Erkenntnissen, Mitläufertum und Nazis im New York der Vorkriegszeit.

Die Autorin Ulla Lenze

Ulla Lenze beleuchtet ein Kapitel des Nationalsozialismus in den USA Foto: Julien Menand/Opale/Leemage/laif

Es hat etwas von Slapstick. Der Lieferjunge hat die Flugblätter verwechselt. „Der Flyer des Schwarzenführers Samuel Daniels „Don’t buy where you can’t work“ war versehentlich an die vornehme Mrs. Dollings gegangen, Geschäftsführerin der Amerikanischen Patrioten, und ihre Flyer „America for white people“ an den schwarzen Daniels. Wir befinden uns in New York 1939, und Josef Klein, Einwanderer aus Deutschland und Gehilfe in der Druckerei der Flugblätter, hat nun die hochnotpeinliche Aufgabe, sich bei den jeweiligen Auftraggebern zu entschuldigen.

Josefs Job bei der Druckerei nutzt die Autorin Ulla Lenze in ihrem Roman „Der Empfänger“, um mit verschiedenen rassistischen, patriotisch und christlich fundamentalistischen Gruppierungen im New York der Vorkriegszeit bekannt zu machen. Zu den Flugblatt-Kunden gehört auch der Deutsch-Amerikanische Bund, glühende Hitleranhänger, die den „Führer“ im Februar 1939 mit einem Aufmarsch von über 20.000 Teilnehmern im Madison Square Garden feiern.

Joe, wie er sich in den USA nennt, wird dahin mitgenommen von Schmuederrich, großspuriger Funktionär in diesem Bund, der sich als sein Mentor aufspielt. „Scharen von Fahnenträgern fluteten plötzlich die Gänge. Auf der Bühne tauchten Sturmtruppen auf, die Blicke ins Nichts gerichtet. Die Trommeln spielten einen Marschrhythmus, erpresserische Feierlichkeit ringsum, er atmete kaum.

‚Das ist großartig‘, sagte Schmuederrich, ‚das ist wie Nürnberg!‘ Josef nickte. Die drahtige Barthaarspitze konnte, wenn seine Fingerkuppe darüber strich, sein Bewusstsein ausfüllen. Er konnte sich auf einen kleinen Punkt konzentrieren, von ihm ansaugen lassen.“

Die Kunst das eigene Denken auszuschalten

Dieser Josef Klein, der gerne etwas „Kleines eintauschte gegen das Große“, ist der Protagonist des Romans „Der Empfänger“. Er übt sich in der Kunst, das eigene Denken auszuschalten und sich rauszuhalten aus den überall sich andeutenden Konflikten. Er ist nicht einmal unsympathisch, ein Loser eigentlich, nicht tüchtig, nicht ehrgeizig, nicht so dumm, wie er sich stellt. Er lebt in New York in Harlem und liebt den Jazz der schwarzen Musiker.

Ulla Lenze: „Der Empfänger“. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 302 Seiten, 22 Euro

Aber er lässt sich benutzen, ohne große Gegenwehr, gepackt bei seinem einzigen Hobby, dem Amateurfunk. Er wird zu einem kleinen Licht in einem Nazi-Spionagering in New York. „Der Empfänger“ sitzt nicht nur am Funkgerät, sondern auch am Ende einer Befehlskette, die er nur schemenhaft in den Blick nimmt.

Ulla Lenzes Roman beleuchtet ein Kapitel des Nationalsozialismus und seiner Agenten in den USA, das in Deutschland bisher verblüffend wenig Thema war. Ihre Quellen kamen dabei hauptsächlich aus den USA, bis auf 180 Briefe, die Josef Klein, den es tatsächlich gab, an seinen Bruder Carl in Neuss schrieb. Es ist die Geschichte eines Onkels der Autorin.

Historisch ist ihr Roman interessant, und dass man beim Lesen weiß, dass er auf Tatsachen beruht, unterstützt die Spannung. Auch ohne die Buchmesse in Leipzig gehörte Ulla Lenze wegen dieser gefundenen Geschichte zu den meist interviewten Autorinnen im März.

Kein Agententhriller, sondern Erinnerungen

Aber zu einem guten Roman macht ihn vor allem, wie Ulla Lenze erzählt. Nicht im Genre eines Agententhrillers, sondern als Buch der Erinnerung eines Mannes, der sich vor sich selbst versteckt, noch immer an seiner Bartspitze kaut. Der den Schleier, den er über den politischen Zusammenhängen lange liegen ließ, erst allmählich wegzieht. Joe ist ein beinahe stummer Mensch geworden, der keine Worte mehr findet, sich selbst zu erklären.

Ulla Lenze passt ihre Erzählung seinem zögerlichen Denken an, in kleinen Schritten nimmt seine kleine Geschichte und ihr Zusammenhang mit der großen Geschichte Gestalt an. Sie findet damit ihren eigenen Zugang zu dem, was man gemeinhin Mitläufertum nennt.

Ausgangspunkt ist eine zeitweise Rückkehr von Josef Klein nach Deutschland zu seinem Bruder Carl in Neuss. Nichts weiß Carl über ihn, seine Arbeit für die Nazis, seine Jahre im Gefängnis auf Ellis Island als deutscher Spion. Warum hat der Onkel aus Amerika kein Geld? Wieso hat er keinen Erfolg gehabt? Noch weiß Josef nicht, wie Carl sich eigentlich verhalten hat, er erkennt in ihm nur die unangenehmen autoritären Muster des Vaters wieder. Die beiden Brüder eiern umeinander rum.

Weil so viel Ungesagtes, weil so viel falsch Verstandenes und falsch Vermutetes zwischen ihnen liegt, das auszuräumen Josefs geistige Kräfte noch immer übersteigt, bleibt es bei Sprachlosigkeit auf beiden Seiten. Josef aber legt sich sein selbstverschuldetes Unvermögen zunehmend auf die Seele. Es beginnt in ihm zu arbeiten, er rekonstruiert die Geschichte seiner willfährigen Haltungslosigkeit. Daran lässt das Buch uns teilhaben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.