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: Minister darf nicht wegen Corona-Chaos zurücktreten

In der Türkei sorgt Innenminister Soylu mit einer sehr kurzfristig verhängten Ausgangssperre für Unmut. Daraufhin reicht er seinen Rücktritt ein, den Präsident Erdoğan aber ablehnt

Das Neue

Die Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan schwankt, aber noch hält sie sich. Angesichts der Coronakrise hat sich bereits zum zweiten Mal ein Minister einen fatalen Fehler geleistet. Nachdem Innenminister Süleyman Soylu am Freitag eine umstrittene strikte Ausgangssperre nur für das Wochenende verhängt hatte, reichte er seinen Rücktritt ein. Doch Er­do­ğan lehnte das am Sonntagabend ab.

Der Kontext

Am Freitagabend um 22 Uhr hatte Soylu ohne jede Vorwarnung eine völlige Ausgangssperre für die 31 größten türkischen Städte angekündigt, die zwei Stunden später um Mitternacht für 48 Stunden in Kraft treten würde. Die Folge war eine Massenpanik, weil tausende Menschen die wenigen noch offenen Supermärkte und Bäckereien stürmten, um sich mit Lebensmitteln für das Wochenende einzudecken. Rund 250.000 Menschen waren nach Schätzungen dicht gedrängt vor den Läden versammelt. „Die Zahlen der neu Infizierten aus diesem Ereignis werden wir spätestens in zwei Wochen sehen“, sagte Tevfik Özlü, Mitglied des Wissenschaftsrats.

Schon vor zehn Tagen hatte eine zeitlich verfehlte Aktion der Regierung zu einem Ministerrücktritt geführt. Am 26. März, als die Corona-Epidemie die Türkei bereits voll erfasst hatte, ließ Er­do­ğan eine Ausschreibung für sein gigantisches Kanal-Projekt einer zweiten Verbindung zwischen Schwarzen Meer und Marmarameer auf den Weg bringen. Ein Aufschrei der Empörung war die Reaktion, wie man gerade jetzt für ein solches umstrittenes Projekt enorme Summen ausgeben könne, statt Gelder für den Gesundheitssektor zu Verfügung zu stellen. Der Transportminister musste gehen, obwohl jeder wusste, dass die Ausschreibung nicht ohne Zustimmung Er­do­ğans veranlasst worden war.

Die Reaktionen

Das Echo auf die verunglückte Verhängung der zweitägigen Ausgangssperre war verheerend. Selbst Politiker der mit der AKP verbündeten MHP verlangten Aufklärung, wie es dazu kam, dass die Ausgangssperre ohne Vorwarnung verhängt werden konnte. Die Opposition erklärte das Vorgehen des Innenministers zum Desaster. Der frühere Regierungschef Ahmet Davutoğlu konstatierte: „Die Regierung ist unfähig, die Krise zu managen.“

Innenminister Soylu versuchte zunächst sich zu rechtfertigen und verbreitete mehrere Versionen, wie es zu dem Chaos kommen konnte. Am Sonntagabend gab er dann auf und erklärte: „Ich trenne mich von meinem Innenministeramt, das ich mit Stolz ausgeführt habe. Ich bitte das türkische Volk um Vergebung, vor allem meinen Präsidenten, den ich bis ans Ende meines Lebens treu dienen werde“.

Doch die Freude der Opposition über den Rücktritt des in weiten Kreisen verhassten Soylu, der seit dem Putschversuch 2016 die Verfolgung aller Regierungsgegner gnadenlos exekutiert hat, währte nur kurz. Wenige Stunden später teilte das Präsidialamt mit, der Präsident habe den Rücktritt des Innenministers zunächst abgelehnt.

Die Konsequenz

Zurück bleibt der Eindruck, Er­do­ğan, der in allen wichtigen Fragen, auch im Vorgehen gegen die Pandemie, selbst die letzte Entscheidung trifft, weiß nicht, was er tun soll, und ist völlig überfordert. Immer wieder sah der Präsident sich angesichts schnell wachsender Zahlen von Infizierten und Toten genötigt, Maßnahmen, die er zunächst nicht treffen wollte, dann doch anzuordnen – aber der Empfehlung seines Wissenschaftsrats, eine allgemeine zweiwöchige Ausgangssperre zu verhängen, widersetzte er sich hartnäckig.

Schon am Montag sorgte dann Präsidentensprecher İbrahim Kalin wieder für Verwirrung. Es könne eine erneute Ausgangssperre kommen, kündigte er an. Laut offiziellen Zahlen gibt es in der Türkei nun 56.956 Infizierte und 1.198 Tote.

Jürgen Gottschlich, Istanbul