Die Wahrheit: Neuartiger Mist in der Provinz

Obwohl alle zu Hause bleiben, wird viel gefahren – zumindest in der Sprache der Krise. Da sind die Unterschiede zwischen Land und Stadt nicht groß.

Seit Wochen höre ich nun schon vom „neuartigen Coronavirus“. Offenbar wurde in den neuartigen Verordnungen der Bundesregierung ein Bußgeld für das Weglassen sinnloser Adjektive verfügt, man hat ja sonst nichts in diesen neuartig harten Zeiten. Als würde noch irgendjemand beim Stichwort Corona fragen: Wie? Was ist das denn? Ist das jetzt etwa neuartig?

Ach doch, es gibt ja den Wurzelsepp Wodarg, der behauptet, das Virus sei weder neu noch schlimm. Es soll übrigens auch von Kräutern und Bioresonanztherapie weggehen (andere Wurzelsepps) oder vom Beten (Papst).

In Deutschland glaubt man aber eigentlich, dass es vom Auto weggeht, was sich leicht daran ablesen und -hören lässt, dass derzeit angeblich alle unterwegs sind: Sie fahren die Wirtschaft runter und wieder hoch, sie fahren Strategien, sie fahren auf Sicht, sie fahren ihre Unternehmen durch die Krise und anschließend gegen die Wand. Hauptsache, die Chefs sitzen immer noch selbstbewusst am Steuer, was natürlich schon längst nicht mehr stimmt.

Privat fragen wir uns dagegen, ob wir Provinzler noch unser Hedonisten-Cabrio fahren dürfen oder ob das schon zu viel alter Spaß in neuartigem Mist ist. Wie sieht das denn aus, während die armen Hipster in Berlin zu Hause bleiben müssen? Sollte es in Krisenzeiten nicht auch uns genügen, jeden Morgen das Frühstück hochzufahren?

Krise als Chance, murmele ich dann nachmittags, aber statt mal eben im Homeoffice in unserem günstig erworbenen Palast Chinesisch zu lernen, studiere ich doch lieber in meinem Tanzsaal eine Choreo zu „Uptown Funk“ ein. Es muss auch was zu lachen geben. Könnten wir vielleicht auf der Diele einen privaten Billardsalon eröffnen? Wo ist eigentlich unser Flipper? Ach so, verschenkt.

Während ich dann arbeitend mit meinem Notebook von anno Schnarch gemütlich von Raum zu Raum weiterziehe, um neuartige Perspektiven zu gewinnen, gucke ich im Netz Bilder von Berlinern, die vermutlich ihre 2.000-Euro-45-Quadratmeter-Wohnung tagelang umräumen mussten, um coole Homeoffice-Selfies mit 2.000-Euro-Notebooks zu präsentieren. Wie gesagt, es muss auch was zu lachen geben. Aber ihr Internet ist schneller, verdammt.

Erst abends packt mich der Krise angemessene Demut und Verzweiflung so heftig, dass nur noch wenig hilft: Zu meiner Überraschung zum Beispiel Beethoven mit dem sagenhaften Igor Levit. Früher habe ich mir weder aus Tasteninstrumenten noch aus toten Komponisten etwas gemacht, doch es sind Tage des Dazulernens und ich schmelze dahin. Sollten wir vielleicht auf unserer Diele einen Flügel aufstellen? Pianisten aus den Städten Corona-Asyl anbieten? Verraten, dass das Landleben während Corona genauso altartig, also großartig ist wie schon immer? Aber dann kommen sie nicht. Mist.

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Susanne Fischer schreibt Romane und Kinderbücher und arbeitet als Geschäftsführender Vorstand der Arno Schmidt Stiftung und des Deutschen Literaturfonds e.V., letzteres ehrenamtlich. (FOTO: THOMAS MÜLLER)

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kari

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