Draußen zu sein nervt

„Taubenleben“ heißt der erste Roman der Journalistin Paulina Czienskowski. Er handelt vom Schweigen der Eltern. Ihre eigenen lernten sich im Dschungel kennen

Verspürt großen Druck, auch in diesen Zeiten beruflich kreativ zu werden: Paulina ­Czienskowski Foto: William Minke

Von Marlene Militz

Ein sonniger Nachmittag, draußen sprießen die Blumen, von den Bäumen zwitschern die Vögel. Ich bin mit der Berliner Autorin Paulina Czienskowski auf ein Gespräch verabredet. Allerdings nicht in einem Café, draußen in der Sonne, sondern bei Skype. So ist das jetzt. Punkt 16 Uhr bekomme ich die Mail: „Bin online, gib ein Zeichen, wenn du loslegen willst:)“.

Jemanden über Skype kennenzulernen, sich ein Bild von einer Person über einen Bildschirm zu machen, kann schwierig sein. Aber Paulina Czienskowski macht es einem leicht. Sie selbst sei zwar kein Fan von Videotelefonie, redet aber gleich so locker, als tue sie sonst nichts anderes. In einem dunklen Pullover sitzt sie vor weißen Altbauwänden, in der unteren Ecke ragt eine grüne Zimmerpflanze in den Bildausschnitt. Die blonden Haare hat sie locker hochgebunden, alles ziemlich entspannt.

Czienskowskis Debütroman „Taubenleben“ ist am 18. Februar im Blumenbar Verlag erschienen. Er handelt von Lois, einer Frau Anfang 30, die Angst hat, krank zu sein. Die Ich-Erzählerin lässt sich bereits auf den ersten Seiten Blut abnehmen und testen. Die nächsten Tage hat sie Angst vor dem Ergebnis. Sie versucht sich abzulenken. Doch die meiste Zeit verbringt sie mit Erinnerungen an ihre Kindheit, ihr Aufwachsen. In einer engen Wohnung im 30. Stock einer Hochhaussiedlung mit ihren Eltern, die kaum miteinander reden. Die Mutter verbringt ihre Zeit mit Kreuzworträtseln, die Lösungen sendet sie ein in der Hoffnung, irgendwann eine Reise zu gewinnen. Der Vater stirbt früh.

Dass der Roman noch Mitte Februar erschienen ist, kann als Glück im Unglück bezeichnet werden. Immerhin gab es noch eine Buchparty und einige Lesungen. Doch der Großteil der in ganz Deutschland geplanten Veranstaltungen musste abgesagt werden. In Kiel, Karlsruhe und Münster hätte die Autorin lesen sollen – und natürlich auf der Leipziger Buchmesse. Czienskowski hat ungefähr zwei Jahre an dem Buch geschrieben. Bitterkeit spürt sie trotzdem nicht. „All das, was seit Monaten die Welt erschüttert, auch abseits von Corona: die Geflüchteten in Griechenland, Hanau. Das setzt alles in ein Verhältnis“, sagt sie.

Der Isolationsalltag ist in seiner Beschaffenheit nichts ganz Neues für eine Schriftstellerin. Schreiben ist per se einsam, ab und zu gab es schon Tage, an denen sie die Wohnung nicht verlassen habe, erzählt sie. Natürlich sei es ein anderes Gefühl, jetzt, wenn man muss. Plötzlich verbringe sie ungewohnt viel Zeit mit Kochen. Einkaufen, essen, lesen, spazieren. „Draußen zu sein nervt allerdings – ich gehe nicht mehr raus, um Luft zu holen, sondern um die Luft anzuhalten.“

Überhaupt wirft die Krise Fragen auf. „Einerseits entlastet mich dieses kollektive Isoliertsein, weil es etwas ist, was man nicht nur in sich allein trägt. Die meisten fühlen gerade ähnlich“, sagt Czienskowski. Aber es mache sie auch nervös, denn der Druck, auch in diesen Zeiten beruflich kreativ zu werden, ist groß. „Alle fragen mich: Hast du eigentlich schon über Livelesungen nachgedacht? Aber ich weiß gar nicht, ob ich das will, ob ich das bin.“ Sie finde es aber auch interessant, sich selbst in diesen Zeiten genau zu scannen: „Muss ich jetzt eine neue Rolle finden? Oder geht es danach auch wieder normal weiter?“

Czienskowski wurde 1988 in Westberlin geboren. Zum Studieren ging sie nach Greifswald. Germanistik und Kunstgeschichte. Danach kehrte sie zurück, ließ sich an der Axel-Springer-Akademie zur Journalistin ausbilden und machte sich selbstständig. Das war vor fünf Jahren. Viele ihrer Texte sind Porträts. Zwei davon behandeln die Lebensgeschichten ihrer Eltern. In einem Text im Zeit magazin erzählt sie, wie sie dem wilden Leben ihrer Mutter, Iris Czienskowski, auf die Spur kam, die in den 80er Jahren mit der Popband Hong Kong Syndikat durch Europa tourte und als Barkeeperin im legendären „Dschungel“ arbeitete. Sie beschreibt, wie ihre Eltern ebendort, im Dschungel, zueinanderfanden und wie ihr Vater, der Schauspieler Richy Müller, in einem Restaurant den Heiratsantrag stellte.

In „Taubenleben“ spricht Lois' Mutter so gut wie gar nicht, am wenigsten über sich selbst. Die Distanz ist groß in der kleinen Wohnung im 30. Stock, in der sich die dreiköpfige Familie auf die Füße tritt. Als Lois’ Vater stirbt, ist sie gerade mal elf Jahre alt. Es war wohl ein Unfall, in ebenjener Wohnung. Ihre Mutter spricht nicht darüber, stattdessen verbrennt sie alle Fotos von ihrem Mann in einem Karton auf dem Spielplatz der Wohnanlage.

Der Roman behandelt das Schweigen der Eltern. Lois versteht in ihrer Kindheit manches nicht, und auch als junge Erwachsene geht es ihr kaum anders. „Der Schmerz der eigenen Eltern, will man den wissen? Oder schützen sie einen davor? Soll man graben? Oder soll man die eigenen Eltern schützen, sodass sie keine Gräben aufreißen müssen, nur damit man selbst Klarheit hat?“, fragt Czienskowski. Dabei darf man Romanheldin und Autorin nicht verwechseln. Die Beziehung zu ihren Eltern sei vollkommen anders. Auf Spurensuche geht sie trotzdem. Auch um sich selbst besser zu verstehen.

Vogue nennt Czienskowski die Stimme ihrer Generation, was ihr offensichtlich etwas peinlich ist. „Wenn das jemand so sieht, dann sage ich: schön. Ich bin aber natürlich nicht die Stimme der Generation Y. Ich kann nicht für Communitys sprechen, denen ich nicht angehöre, nur weil sie gleich alt sind.“ Trotzdem werden sich viele junge Frauen in Teilen von Lois wiedererkennen. Aber nicht nur junge Frauen: „Auch eine 85-jährige Dame sagte zu mir, sie hätte sich selbst in den Widerständen von Lois erkannt.“ Das Schweigen der Eltern ist eben doch ein generationsübergreifendes Thema.

Paulina Czienskowski: „Taubenleben“. Blumenbar Verlag, Berlin 2020, 224 Seiten, 20 Euro