Aufstand der Sinti vor 40 Jahren: Die fortgesetzte Verfolgung

Der Hungerstreik von zwölf Sinti vor 40 Jahren gilt als Initialzündung für die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma. Vier Hamburger waren dabei.

Roma und Sinti mit Gedenksträußen auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau.

Zusammenhalt und politisches Bewusstsein: Der Protest der Roma und Sinti in Dachau Foto: Günter Zint

HAMBURG taz | Der Karfreitag 1980 fällt auf den 4. April. In der Versöhnungskirche der KZ-Gedenkstätte Dachau sind zwölf Sinti in den Hungerstreik getreten, darunter die KZ-Überlebenden Franz Wirbel, Jakob Bamberger und Hans Braun. Ihre Forderungen: Aufarbeitung des NS-Völkermords an den Sinti und Roma; Aufklärung über den Verbleib der NS-„Zigeunerakten“ und Beendigung der fortgesetzten Sondererfassung von Sinti und Roma durch Justiz- und Polizei.

Aus ganz Deutschland reisen Familien und Unterstützergruppen an, in Pkws und Wohnwagen. In Hamburg setzen sich die Musiker und Aktivisten Tornado Rosenberg und Rudko Kawczyns­ki, der Journalist und Moderator Henning Venske sowie der Fotograf Günter Zint ins Auto und fahren die Nacht durch.

„Als wir ankamen, umkreisten Nazis in ihren Autos das ehemalige KZ“, erinnert sich Venske heute. „Sie riefen Drohungen und warfen auch mit Steinen. In die Gedenkstätte ließ uns die Leitung am Anfang nicht rein.“ Es war die Zeit von Gruppierungen wie Michael Kühnens Aktionsfront Nationaler Sozialisten und der Wehrsportgruppe Hoffmann. Knapp ein halbes Jahr später kam es zu dem Attentat auf dem Münchner Oktoberfest.

„Wir wollten auf das Gelände fahren und eine kleine Ausstellung aufbauen“, sagt Günter Zint. „Aber der Polizeichef untersagte das mit den Worten: ‚Sie stören die Ruhe der Toten.‘ Darauf fragte entweder Tornado oder Rudko: ‚Wessen Tote ruhen hier‘?“ Als die Gruppe dann doch auf dem Gelände war, las Zint im Gästebuch den Satz: „Dass die die hier noch sitzen ist der Beweis, dass Hitler nicht gründlich genug gearbeitet hat.“

Völkermord weitgehend verschwiegen

Bis Anfang der 1980er-Jahre wurde der Völkermord an den Sinti und Roma weitgehend verschwiegen. In Polizei, Justiz und Gesundheitswesen lebten rassistische Denkmuster fort. Die Münchener „Landfahrerzentrale“ führte bis 1972 die von den Nazis geführten Listen weiter und erfasste die vormals als „Zigeuner“ eingestuften Personen nun mit Bildern und Fingerabdrücken als Landfahrer. Ähnliche Einrichtungen zur systematischen Kriminalisierung gab es in Hamburg und Nordrhein-Westfalen.

„Es ging beim Hungerstreik um die Akten der ‚Zigeunerzentrale‘ im Reichssicherheitshauptamt, die nach dem Krieg in die Landfahrerzentrale nach Bayern überführt wurden und nach deren Auflösung angeblich vernichtet oder verschwunden waren“, sagt Kawczynski, heute Vorsitzender der Roma-und-Cinti-Union (RCU). „Das waren sie nicht, wie sich herausgestellt hat, sondern sie lagen in anderen Polizeidienststellen und verhinderten die Wiedergutmachungen. Das war der erste Zipfel des Rassismus, den wir ergriffen.“

Die Bürgerrechtsbewegung steckte noch in den Kinderschuhen – auch in Hamburg. Die ersten Schritte zur Emanzipation fanden im kulturellen Raum statt, im Musikclub „Onkel Pö“ in Eppendorf. „Wir haben mit Udo Lindenberg, Otto, Gottfried Böttger und vielen anderen gespielt“, sagt Tornado Rosenberg, der damals mit der Band seines Bruders Wolkly auftrat, den Swing Gypsy Rose.

Zusammen mit Kawczynski war Rosenberg 1979 zu einer Aktion nach Bergen-Belsen gefahren. „Ich hatte damals schon angefangen, satirische Lieder zu machen und habe dann ‚Lustig ist das Zigeunerleben‘ umgedichtet“. Die zweite Strophe geht so: ‚Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria ho, der Staat braucht uns keine Rechte zu geben, faria faria ho. In Auschwitz waren die Duschen gar lustig und fein, da kriegte man Seife und durfte hinein, faria faria ho.‘“

Die Begegnung ist die Geburtsstunde des Duo Z, mit dem Rosenberg und Kawczyns­ki dann zwei Jahrzehnte politische Lieder sangen. „Das war für Sinti neu, die kannte man bis dahin nur mit Swing oder der sogenannten ‚Zigeunermusik‘“, sagt Rosenberg.

Von Anfang an dabei war auch Henning Venske, der mit den Kindern der Familie Rosenberg zu der Zeit zwei Livesendungen im NDR-Kinderfunk machte, „die eine ziemliche Sensation waren“, wie er heute sagt. „Für die Sinti und ihre Vergangenheit hat sich damals niemand interessiert.“ Venske unterstütze sie bei der Produktion der LP „Ganz anders“ und verhalf ihnen zu Auftritten im Audimax und im Rundfunk. „Die Leute standen auf den Stühlen. Obwohl sie bei unseren Texten nie wussten, ob sie klatschen sollten oder nicht“, sagt Rosenberg. Günter Zint war als fotografischer Chronist der politischen Bewegungen der Zeit oft dabei.

Am Rande des Zusammenbruchs

Als in Dachau der Hungerstreik begann, war für die vier klar, dorthin zu fahren. „Ich habe die Stimmung als sehr bedrückend wahrgenommen“, sagt Venske. „Man spürte die Feindseligkeit und die Ablehnung, die den Sinti entgegenschlug. Ich habe versucht, ihnen die Situation etwas zu erleichtern.“ Als die öffentliche Aufmerksamkeit nachließ, fuhren sie wieder nach Hamburg, wo sie zur Unterstützung die erste große Demo der Sinti und Roma organisierten. „Das war sehr beeindruckend“, sagt Kawczynski.

In Dachau waren die Hungerstreikenden am Rand des körperlichen Zusammenbruchs, wollten aber durchhalten. Erst nach einer Woche kam es im bayerischen Innenministerium durch die Vermittlung der evangelischen Kirche zu den entscheidenden Verhandlungen, die auf Seiten der Streikenden von Romani Rose geführt wurden, dem heutigen Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Die bayerische Regierung räumte ein, dass Vorurteile und Diskriminierungen abgebaut werden müssten.

Zu einer politischen Verurteilung der Tätigkeit der bayerischen „Landfahrerzentrale“ konnte sich die Landesregierung nicht durchringen. Zum Abschluss des Hungerstreiks empfingen die Bürgerrechtler am 12. April 1980 Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) in Dachau. Er sagte ihnen Unterstützung zu und bezeichnete die Protestaktion als einen „ganz wichtigen Anstoß“.

Münchner Akten in Hamburg

Ein mittelbarer Erfolg des Hungerstreiks ist, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) 1982 erstmals für die Bundesregierung den Völkermord an den Sinti und Roma aus Gründen der sogenannten „Rasse“ in völkerrechtlich verbindlicher Weise anerkannte.

„Später haben wir herausgefunden, dass viele der Akten aus München in Hamburg bei der Polizei gelandet sind“, sagt Tornado Rosenberg. „Sie haben die Listen genauso weitergeführt und ‚Zigeuner‘ weiter als Kriminelle geführt.“ Bis in die 1980er-Jahre war Hamburg durch die Weiterführung der Akten nach Ansicht von Kawczynski das „Epizentrum der rassistischen Verfolgung in Deutschland“. Nach der Auflösung der berüchtigte Polizeidienststelle 633 landeten die Akten im Staatsarchiv. Um an diese heranzukommen, initiierten die Hamburger Sinti und Roma dann selbst einen Hungerstreik in Neuengamme.

„Der Hungerstreik in Dachau war die Initialzündung der Bürgerrechtsbewegung“, sagt Kawczynski. „Nach innen hat es das Selbstbewusstsein, das politische Bewusstsein und den Zusammenhalt wesentlich gestärkt. Heute haben wir in Deutschland die stärkste Bewegung in ganz Europa und es passt kein Blatt Papier zwischen die einzelnen Gruppen.“

Transparenzhinweis: Wir haben die Rolle von Henning Venske bei der Produktion von „Ganz anders“ präzisiert.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.