Einwanderer in Großbritannien: Ignoriert und schikaniert

Ein Untersuchungsbericht rehabilitiert Englands allererste karibische Immigrantengeneration.Wird die Politik etwas daraus lernen?

die britische Innenministerin Priti Patel

Die britische Innenministerin Priti Patel bat am Donnerstag alle Betroffenen um Entschuldigung Foto: Toby Melville/reuters

LONDON taz | Der in dieser hektischen Zeit völlig überarbeiteten Kassiererin eines Supermarkts im Londoner Stadtteil Bloomsbury kommt ein erleichtertes Lächeln, als sie von dem soeben veröffentlichten Untersuchungsbericht hört.

„Windrush, eine Rückschau über gelernte Lektionen“ heißt die Untersuchung über den skandalösen Umgang der britischen Behörden mit Immigranten der ersten Generation: Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den damaligen britischen Kolonien in der Karibik in Städte wie London, Manchester und Birmingham kamen, um das „Mutterland“ wieder aufzubauen.

Die Eltern der Kassiererin gehören dazu. Was ist da schon neu, meint sie. „Das Home Office“, also das britische Innenministerium, „bedrängt vor allem uns Jamaikaner, weil wir die Besten sind.“

Der von Polizeiinspektorin Wendy Williams verfasste Bericht geht mit dem Innenministerium und der britischen Immigrationspolitik aller Regierungen hart ins Gericht. Er ist das Ergebnis einer zweijährigen Untersuchung über angedrohte oder vollzogene Aberkennungen britischer Staatsangehörigkeit solcher Migrant*innen. Man nennt sie die „Windrush Generation“, weil das Schiff ‚HMS Windrush‘ das erste war, das sie offiziell nach Großbritannien brachte.

Unter die Räder

Zwischen 1948 und 1973, als Commonwealth-Bürger das automatische Aufenthaltsrecht in Großbritannien verloren, waren sie noch willkommen, obgleich sie im Alltag oft Rassismus erlebten. Später kamen sie unter die Räder – insbesondere als das Innenministerium ab 2015 unter der damaligen Ministerin Theresa May eine Politik verfolgte, für illegale Einwanderer ein „feindlich gesinntes Umfeld“ zu schaffen.

Denn das Innenministerium hatte vergessen, dass rund 600.000 Alt­mi­gran­t*in­nen ohne Dokumente völlig legal nach Großbritannien gekommen waren und weiter dort lebten. Niemand hatte je daran gedacht, ihre Einreise ausreichend zu dokumentieren oder sie als Staats­bür­ge­r*in­nen zu verzeichnen. All dies, so der Bericht jetzt, sei rassistisch motiviert gewesen.

Mindestens 164 Menschen wurden über Jahre hinweg, nicht erst seit 2015, mit Abschiebung bedroht oder ausgewiesen, Williams betont, es könnten auch Hunderte, ja Tausende mehr direkt oder indirekt betroffen sein – Leute, die seit Jahrzehnten in Großbritannien problemlos gelebt und gearbeitet hatten.

Wer bei einem Ämtergang sein Bleiberecht nicht nachweisen konnte, konnte plötzlich damit konfrontiert werden, kein Wohnrecht oder kein Anrecht mehr auf Gesundheitsversorgung, Arbeit oder Sozialhilfe zu haben. Das führte zu Verarmung und Krankheit, auch zu Todesfällen.

Spektakulärer Rücktritt

Als die Medien das aufdeckten, reagierte das Innenministerium zunächst nicht. Das führte zum spektakulären Rücktritt der damaligen Innenministerin Amber Rudd im April 2018. Ihre Vorgängerin Theresa May, da schon Premierministerin, kam ungeschoren davon.

Rudds Nachfolger Sajid Javid, selbst Sohn einer Einwandererfamilie aus dem indischen Pandschab, erwirkte, dass Angehörige der Windrush-Generation endlich die korrekten Papiere erhielten, und gab einen Bericht in Auftrag. Damit schützte er das Amt, denn dem Bericht fehlen mögliche rechtliche Konsequenzen, wie ein formeller Untersuchungsausschuss sie hätte einleiten können.

In ihrem diese Woche vorgelegten Bericht findet Williams dennoch die schärfsten Töne: „Das Innenministerium hegte eine Kultur des Misstrauens und der Nachlässigkeit mit institutioneller Ignoranz und Gedankenlosigkeit in Fragen des Rassismus und der Geschichte der Windrush Generation.“ Manches stimme mit einem Verhalten überein, das als institutioneller Rassismus zu verstehen sei.

Unter den dreißig Empfehlungen des 276-Seiten-Berichts stehen Forderungen wie Geschichtsunterricht für Be­am­t*in­nen zum Thema Kolonialismus, Diskriminierungstraining und eine bessere Kontrolle sensibler Fälle. Das Innenministerium müsse sich zu seiner Schuld bekennen, sich mit den karibischen Briten aussöhnen und seine Arbeitskultur ändern, verlangt Williams. Das komplexe und verwirrende Einwanderungsgesetz sei zu vereinfachen.

Klare Entschuldigung

Kein Wunder, dass die derzeitige Innenministern Priti Patel, Tochter einer indischstämmigen Migrantenfamilie aus Uganda, sich im Parlament unmissverständlich entschuldigte und versprach, für Veränderungen zu sorgen. Sogar Theresa May schloss sich vorsichtshalber an. „Es gibt für das Home Office und für die Gesellschaft allgemein etwas hieraus zu lernen“, sagte Patel.

„Trotz der diversen und offenen Art unseres Landes fühlen sich viel zu viele Menschen aufgrund der Herkunft ihrer Eltern diskriminiert.“ Alle sollten selbst in den Spiegel sehen und Verantwortung für die Fehler übernehmen, die dieser Generation unvorstellbares Leid gebracht hätten.

Priti Patel sticht dabei in ein Wespennest: Sie hat sich bereits mit einigen ihrer höchsten Beamten überworfen, die mitverantwortlich für die Windrush-Politik waren. Einer ist bereits zurückgetreten.

Und nun? Die Londoner Anwältin Jacqueline McKenzie, die viele Betroffene vertritt, erwartet, dass das Innenministerium der Empfehlung folgt, nach sechs Monaten einen allumfassenden Plan vorzustellen.

David Lammy, Labour-Abgeordneter für den Nordlondoner Wahlkreis Tottenham, dessen Eltern ebenfalls einst aus der Karibik nach Großbritannien auswanderten, fordert eine Amnestie für alle derzeit „illegalen“ Einwander*innen. Dabei beruft er sich auf einen ehemaligen Londoner Bürgermeister: Boris Johnson.

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Seit 2012 für die taz im ständigen Einsatz. In München geboren und aufgewachsen, machte er sein Abitur in Israel. Seit 1991 lebt er im Herzen Londons, wo er zunächst drei Hochschulabschlüsse absolvierte, unter anderem an der SOAS, wo er Politik und Geschichte studierte. Nach einer Rundfunkausbildung war er zunächst für DW im Einsatz. Neben dem Journalistischen war er unter anderem als qualifizierter Pilateslehrer, Universitätsassistent und für das britische Büro des jüdisch-palästinensischen Friedensdorfes Wahat al-Salam ~ Neve Shalom tätig. Für die taz bereist er nicht nur die abgelegensten Ecken Großbritanniens, sondern auch die Karibik und die Kanalinseln. Sein Buch über die Schoa "Soll sein Schulem. Verluste, Hass, Mord, Fragen der Identität aus autobiografischer Sicht," soll Ende 2024 oder Anfang 2025 erscheinen.

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