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: Frühling in einer unguten Kombi mit Endzeitstimmung: Tindergeddon

Ins Freie zu gehen und Flaschenbier trinken, war durchaus noch im Rahmen ernstgemeinter, offizieller Vorschläge – Viren hassen ja angeblich frische Luft. Aber wohl gerade deshalb machen das auch so viele, dass der Nutzen implodiert. Denn unterwegs merken wir schnell, dass wir alles andere als allein sind. Wir hätten gedacht, alle säßen zu Hause und hätten Angst. Ab Morgen haben sie dann auch so richtig Grund dazu. Die im Grunde schöne Idee, die Menschen hinaus in die Sonne zu lassen, um physische und psychische Widerstandskraft zu tanken, kehrt sich ins Gegenteil: Es ist eine einzige, riesige Freiluft-Coronaparty.

Ein Schild an einem kleinen Laden fordert dazu auf, „Puzzle gegen Lagerkoller“ zu kaufen. Ich hoffe ja, alle haben sich daran gehalten, denn die Geschäfte sind nun längst geschlossen. Und viele haben gemerkt, dass man sich mit Puzzleteilen nicht den Arsch abwischen kann.

In der Hasenschänke im Volkspark Hasenheide mahnt ein Schild zu anderthalb Metern Abstand. Vor dem Verkaufsschalter haben sie sogar entsprechende Linien gemalt. Fast jeder hält sich daran. Das Personal trägt Latexhandschuhe; die Stühle und Tische, die sonst auf der Freifläche stehen, verbleiben im Schuppen. So hat sich dieser sonstige Zwitter zwischen Kiosk und Biergarten nun eindeutig für die Kioskvariante entschieden.

Auf den Wegen ballen sich die Freundesgruppen. Sie haben Zeit. Homeoffice, Kinderbetreuung, Jarnüschtmehr. Da trifft man sich am besten im Park. Hug, hug. Küsschen, Küsschen. In schwierigen Zeiten müssen wir alle zusammenrücken. Die knutschenden Kurzzeitpärchen, die es vor dem Weltuntergang noch einmal wissen wollen, möchte ich am liebsten wie ein Anstandswauwau aus dem neunzehnten Jahrhundert ankläffen („ei, ihr Schamlosen!“), lasse es dann aber doch. Ja ja, Frühling, ich weiß schon, in einer unguten Kombi mit erregter Endzeitstimmung: Tindergeddon. Schmetterlinge. Alles anfassen, hier gleich auf dem Rasen. Dazwischen Krokusse. Doch auf diese Tour ist der Herbst schneller da, als man denkt.

Und auch für Fremde besteht auf Abstandhalten keine Chance. Die Angewohnheit besonders der Millennials, von Kopfhörern abgeschottet, durch andere Menschen mehr oder weniger hindurchzugehen oder -fahren, ist mir vor dieser Zeit noch nie so extrem aufgefallen wie jetzt.

Am meisten beängstigen mich die vielen Jogger. Sabbernd, hechelnd und prustend steuern diese Schwitz- und Schnaufschweine mitten durch die Menge. Sie wollen entweder fit ins Grab, oder, noch wahrscheinlicher, uns bedenkenlos verseuchen. Survival of the fittest ist buchstäblich ihr Prinzip. Es fehlt im Grunde nur noch, dass sie squirten, Feuer spucken oder Altöl verlieren.

Wir bewegen uns wieder Richtung Kreuzberg. Die einen Cafés haben zu, dafür sind die anderen umso voller. Wir treffen zufällig Bekannte, die sich zwischen hundert anderen auf eine Bank gequetscht haben. Soziophob lehnen wir ihre freundliche Einladung ab, uns dazuzusetzen, und machen uns auf den Rückweg. Den Uferweg vermeiden wir sogar ganz, denn genauso gut könnte man zum Feiern in den Club Trompete gehen.

Gegen Abend geh ich selbst noch mal joggen. Prust, schnauf, spritz – ich nehm euch alle mit! Dabei beobachte ich einen Dealer, wie er sich Latexhandschuhe anzieht, kein Scheiß, echt jetzt. Das Drogengeschäft scheint unauffällig zu laufen. Zwar verleitet die Gesamtsituation sicher einige dazu, sich die Gitterstäbe quer und das Fernsehprogramm bunt zu rauchen, doch fehlen langsam auch ein paar Touristen. Träumt man eigentlich, wenn man tot ist – hat da irgendwer Erfahrungen? Uli Hannemann