„Wir erleben uns gerade als Organismus Gesellschaft“

Die Digitalisierung der Theater in Zeiten der Corona-bedingten Schließung wirft nicht nur technische Probleme auf. Ein Gespräch über grundsätzliche Fragen des Strukturwandels

Friedrich Kirschner arbeitet seit 2012 als Professor für Digitale Medien im Puppenspiel an der HfS Ernst Busch. Er ist Filmemacher, visueller Künstler und Software-Entwickler und nutzt Computerspiele und Echtzeit-Animationstechniken als Grundlage für animierte Kurzfilme und interaktive Installationen und digitale Performances Foto: Jörn Hausner

Interview Tom Mustroph

taz: Friedrich Kirschner, als Professor für Digitale Medien dürften Sie jetzt gefragt sein. Wie gut ist Ihrer Hochschule die Umstellung aufs Digitale gelungen?

Friedrich Kirschner: Wir tun gar nicht so, als könnten wir alles sofort umstellen, als könne alles so weiterlaufen, nur dass wir auf YouTube, Vimeo oder Twitch umsteigen. Wir sind dabei, neue Räume zu schaffen, in denen wir einüben können, wie man miteinander diskutiert. Viele der Arten und Weisen, wie wir bis jetzt kommuniziert haben, funktionieren im Homeoffice nicht mehr so gut. Telefonieren kann ich nur mit einer Person, es sei denn, ich kenne mich gut aus mit Telefonkonferenzen. Bei Videokonferenzen stellt sich die Frage: Wer redet wann? Es gibt viele neue Umgangsformen, die eingeübt werden müssen, damit man zu einer Handlungsfähigkeit kommt, die der bisherigen ähnelt.

Was haben Sie als Kommunikationsplattform für die Hochschule implementiert?

Für uns war wichtig, dass wir in Teams über mehrere Themen diskutieren können, dass man dabei die Räume wechseln kann und auch in der Lage ist, den Verlauf einer Diskussion nachlesen zu können, wenn man mal drei Stunden nicht online war. Wir nutzen den Dienst Discord, der bei Videospielcommunities beliebt ist. Er stellt viele Dinge zur Verfügung: Videotelefonie mit bis zu zehn Leuten, Sprechgruppen mit bis zu 50 Leuten und Diskussionskanäle, in denen Debatten sortiert und Gruppenzugehörigkeiten hergestellt werden können. Wir haben versucht, das Gebäude der Hochschule dort nachzubauen. Es gibt einen offenen Mensa-Kanal. Da können 50 Personen mit dem Headset hineingehen und miteinander reden. Außerdem haben wir Räume für die einzelnen Bereiche der Hochschule gebaut, so dass der E-Mail-Verkehr stark entlastet werden konnte.

Discord ist von Rechtsextremen genutzt worden, sowohl von der Altright-Szene in den USA als auch von Reconquista Germanica. Muss es da nicht Berührungsängste geben?

Die Frage nach dem Extremismus kam bei uns auch auf. Im Gegensatz zu Facebook, YouTube und Twitter, die sich alle sehr schwer damit getan haben, hat sich Discord aber recht schnell von diesen Konten getrennt.

Wem gehören auf Discord die Daten?

Das ist eine wichtige Frage, und das gilt für alle Plattformen. Ich bin ein großer Fan des Europäischen Gerichtshofes. Dort sollten die datenschutzrechtlichen Richtlinien geklärt werden und damit auch die Frage, wem meine Daten gehören. Das hat jetzt an Dringlichkeit gewonnen.

Die Wiederherstellung der Kommunikationsfähigkeit der Hochschule ist das eine. Aber Ihre Studierenden reden ja nicht nur miteinander, sondern sind es auch gewohnt, zu proben und eigene Projekte zu entwickeln.

In der Form, wie Proben früher stattgefunden haben, können sie gerade nicht stattfinden. Sicher entdecken wir an den verschiedenen Werkzeugen, die wir benutzen, ein gewisses künstlerisches Potential. Allein mit der Anordnung der Videos im Dienst Zoom kann man herumspielen. Da sind wir am Suchen. Viel Erfahrung kommt aus der freien Szene, die immer viel digital probiert hat, oder aus angrenzenden Künsten, wie der Medienkunst. Sicher ist es aber nicht die Lösung, einfach nur das Theater abzufilmen, das man bisher gemacht hat. Nicht vergessen darf man, dass auch wir uns in einer extremen sozialen und politischen Situation befinden. Manche unserer Studierenden wohnen mit ihren Familien zusammen, andere in WGs. All das ist von Unsicherheit geprägt, auch von ökonomischer Unsicherheit, vor allem bei denen, die finanziell von Produktionen abhängig waren, die jetzt abgesagt wurden.

Ihr Studiengang „Spiel und Objekt“ ist in der Abteilung Puppenspiel angesiedelt, also im Objekttheater. Das war schon länger die Innovationsschmiede der Hochschule. Woran wird derzeit gebastelt?

Natürlich wollen wir die Auseinandersetzung mit der physischen Welt nicht verlieren, auch wenn wir nicht mehr im selben Raum sind. Seit Jahren gibt es Plattformen für das Internet der Dinge, mit denen man Rollläden hoch- und runterfahren oder Temperatureinstellungen online verändern kann. Das ist spannend, es greift aber auch stark in die Privatsphäre ein. Maschinen zu bauen, die über das Internet gesteuert werden, ist nicht neu. Gerade interessant ist: Über welche Kanäle wird dies dann distributiert? Gehen alle zu YouTube, und YouTube sagt: Wunderbar, Leute wie Sie schauten auch dieses Tiny-House-Tutorial?

Welche Plattformen nutzt man? Die der Multis oder kreiert man eigene Kanäle?

Das alles wird gerade diskutiert, auch unter den Theatern. Für eine eigene Infrastruktur braucht es aber Geld. Für die Technik und die Menschen, die sie betreuen. Ich glaube, dass das Theater inhaltlich und politisch auf die gegenwärtige Situation reagieren wird. Wir sehen, dass Berufsgruppen neu bewertet werden: Kassierer*innen im Supermarkt, Menschen, die unseren Müll wegbringen, das gesamte Gesundheitswesen. Man fragt sich auch: Wozu zahlen wir Miete, weshalb gibt es Mietzuschüsse, wenn das Geld einfach zu denen geht, denen die Häuser gehören? Das stellt systemische Fragen: Wir erleben uns gerade als Organismus Gesellschaft. Die Wahrnehmung dafür wird geschärft, dass das, was ein Einzelner tut, Auswirkungen hat auf jemand anderen. Solche Zusammenhänge erlebbar machen, das können interaktive Theaterstücke leisten.