Ulf Poschardts Buch „Mündig“: Zeit für ein neues Gefährt

Der Chef der „Welt“ hat ein Buch geschrieben. „Mündig“ handelt von seinen Lieblingsthemen wie Individualismus und Verboten.

Ein Auto steckt in den Seitenbegrenzungen einer schmaler werdenden Strasse fest

Achtung! Das ist nicht das Auto von Ulf Poschardt Foto: Gareth Harrison/Unsplash

Ja, Ulf, wir wissen, du würdest lieber mit den coolen Kindern im Sandkasten spielen. Aber, sieh es ein, Ulf: Du bist alt. Der Bums ist weg, der Knall. Der Einspritzverroster tut’s nicht mehr, die Kupplung zieht Fäden, und aus der Buchhaltung hört man auch nichts Gutes über dich. Einfach so umhergurken in der Mittagspause, den Kopf frei kriegen: Das darfst du seit ein paar Tagen nicht mehr. Gefangen in einer beliebigen Quatschposition und jetzt wahrscheinlich auch in deiner mittelsauberen Vierzimmerwohnung, bläst du mittags deine fünfzig Zeilen in die Welt und bist abends zu müde, um noch irgendetwas anderes zu machen als twittern.

Klar, Geld ist da, dicke. Bei dir. Der Welt aber fehlt es. Und so stehst du ganz oben auf der Abschussliste vom zwei Meter großen Döpfner und von Friede Springer sowieso. Musst dir rechtsdumme Brunzdumpfler wie Don Alphonso gefallen lassen und darfst nicht mal mit den Augen rollen. Anstrengend muss das sein.

Stopp. Das hier ist, genau wie dein Buch, ein Dokument aus vergangenen Zeiten, als man noch ungehemmt hassen und Aufforderungen wie die, die du bei deiner Lesung in der taz verstreutest: doch lieber die „echten Nazis“ zu bekämpfen – also deine Autoren? –, selbstverständlich für Humbug halten konnte. Jetzt aber, da die Ka­tas­tro­phe vor der Tür steht, erscheint das alles irgendwie belanglos. Ulf, Ulf, taz, taz, Porsche, Porsche, kicher, kicher: Wen juckt’s? Außerdem: Wir Systemirrelevanten sind im Moment alle zu Hause. Haben alle Zeit, etwas runterzukommen. Uns dem Poschardt’schen Werk einmal nüchtern zu nähern. Was bleibt?

Eine Krise, die jeden Individualismus, auch wenn er noch so heroisch vorgebracht sein mag, überfordert. Das weiß und wusste schon immer auch Poschardt, der trotz aller Neoliberalie für seine Auftritte nie auf den Ruch linker Theorieintelligenz verzichten mochte. Ein Leben im Brückenschlag zwischen Springer und Merve, zwischen dem materiell lukrativen Buddytum alter Herren und dem symbolisch lukrativen (und manchmal ziemlich rücksichtslos angeeigneten) Gedankenrauch Postachtundsechzigs: zwei starken Kollektiven, auf die gestützt eine aufsteigende Karriere in einem absteigenden Sektor des Marktes sogar trotz einiger Fuck-ups, wie man neudeutsch sagt, ziemlich gut geflutscht ist.

Das Tempo nimmt ab

Jetzt ist Poschardt über fünfzig Jahre alt. Da nimmt das Tempo, so wie bei uns allen gerade, ab. Das Buch „Mündig“ selbst ist eigentlich gar nicht so neu, sondern zusammengewürfelt aus Versatzstücken bereits erschienener Texte, in denen ja ohnehin, wie bei jedem vernünftigen Denker, immer dasselbe stand. Und selbst das wirkt irgendwie müde, ritualisiert, abgeschlafft: „Mündigmachung ist eine Beschleunigung der eigenen Entwicklungsgeschwindigkeit.“ „Es geht eher darum, die Gefahr der Vernunft als ABS für zunächst abwegige Gedanken oder Haltungen zu problematisieren.“ Der „mündige Intellektuelle“ nämlich ist auf der Autobahn zu Hause. „Wie bei einem Rennwagen ist sein Fahrwerk genau einstellbar.“

Ein bisschen Abenteuerpathos für einen alt gewordenen Tiger, na gut. Aber bieten nicht genau die Tage und Wochen, die gerade angefangen haben, die Chance, sich neu zu sortieren? Sich breiter aufzustellen? Die core assets abzustaken?

Wenn es stimmt und Poschardt, wie unser kluger Chefreporter Peter Unfried in seinem Nachwort anmerkt, eigentlich gegen etwas anschreibt, das er selbst schon lange verkörpert – den Typus des bequem gesattelten, grünliberalen, ein bisschen dekadenten Kulturarbeiters, der ausspricht, was seinesgleichen denkt –, wäre es da nicht langsam an der Zeit, das anzuerkennen? Das: die Wichtigkeit der verschiedenen Kollektive (denen beizutreten man den richtigen Stallgeruch an sich haften haben muss) zur Absicherung des eigenen Lebens.

Endlich wirklich was risikieren?

Und wäre es nicht außerdem an der Zeit, ausnahmsweise mal wirklich etwas zu riskieren, statt immer nur darüber zu schreiben? Auszusprechen, was seinesgleichen denken könnte – wenn es denn den Mut dazu hätte. Nämlich dass wir nicht weniger, sondern mehr und andere Kollektive brauchen? Dass die nicht Einengung bedeuten? Sondern das eigene Leben mit Diversität und Kontingenz bereichern?

Ulf Poschardt: „Mündig“, Klett-Cotta, 271 Seiten, 20 Euro

Das heißt nicht, dass man dafür alle mühsam eingeübten Stilisierungshüllen über Nacht ablegen soll oder das Auto verschrotten (vielleicht nächstes Jahr dann). Aber ein Gefährtwechsel kann durchaus nicht schaden. Das scheint auch Poschardt begriffen zu haben: Er zeigt Verständnis für die Kranken und Schwachen; sorgt sich darum, „Menschen mitzunehmen beim ökologischen Transformationsprozess“; geißelt die „Irrungen des gierigen Materialismus“ und die „Kollateralschäden der sozialen Marktwirtschaft“. Klagt an: „Noch immer entscheidet die Herkunft eines Kindes zu oft über dessen Zukunft.“ Und will selber nicht verloren gehen: „Wer die Träume der Kindheit verliert, wird nie mehr richtig träumen können. Wahrscheinlich. Vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon?“

Albtraum eines neuen, alt gewordenen Zeitalters

Ja, wer weiß das schon. Wer weiß schon, wie die Zukunft wird? Fest steht, dass, wer 250 Seiten über „Mündigkeit“ veröffentlicht, eine Angst vor Entmündigung zum Ausdruck bringt, die er gar nicht haben muss. Denn das Leben in einer Gesellschaft bringt nun mal unausweichliche, tägliche Entmündigungen mit sich. So zu formulieren ergibt aber erst dann Sinn, wenn man sich mit der Notwendigkeit belastet, sich als immer souveränes und selbst noch im Kontrollverlust cooles autonomes Subjekt zu begreifen. Ich will hier nicht entmündigen, aber: „Mündigkeit“ ist eine Erfindung, die die zerstörerische Angst vor ihrer Infragestellung immer schon in sich trägt.

Und jetzt wird es noch ernster: Natürlich muss trotzdem jede*r Angst haben dieser Tage. Aber wenn in Italien nun Pfle­ger*innen entscheiden müssen, wer beatmet wird und wer nicht, weil es nicht genügend Geräte gibt, und wenn das in Großbritannien und den USA unmittelbar bevorsteht, dann werden die Alten, Kranken, Behinderten, also die, aus dem Postulat einer „Mündigkeit“ folgend, zu Unmündigen Erklärten, zuletzt versorgt. Die Migrantisierten natürlich auch, worauf die Spiegel-Kolumnistin Ferda Ataman unlängst auf Twitter hinwies und prompt unter den Beschuss jenes Justemilieuder Verächter*innen der angeblichen Unmündigkeit geriet, das Poschardt um sich schart. Und dann wirkt das wie ein Albtraum vom neuen, alt gewordenen Zeitalter, das in der verspäteten Nation Deutschland spätestens mit dem grinsenden Gerhard Schröder begann und zum ­grinsenden Björn Höcke führte.

Es soll hier nicht um Schuld gehen, nur darum, in sich zu gehen: Was treibt mich an, Ideale zu vertreten, die mich bei näherem Hinsehen abstoßen müssten? Warum möchte ich das Leid derer übersehen, die ich, auch wenn ich nur ein kleines Rädchen im Getriebe bin und ja eigentlich auch superlieb, noch immer so gerne verspotte? Sich diesen Fragen zu stellen, das wäre doch schon fast wieder mündig.

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