Hausärztin über Corona-Epidemie: „Wir müssen querdenken“

Viele Mediziner fühlen sich von der Corona-Epidemie überrumpelt. Die Hausärztin Sibylle Katzenstein fordert daher „unkonventionelle Lösungen“.

Ein Ständer mit Rachenabstrichröhrche zur Untersuchung auf Coronavirus in einem Labor

Ohne Schutzmasken ist der Abstrich mit erhöhten Ansteckungsrisiko verbunden Foto: Felix Kästle/dpa

taz: Frau Katzenstein, sind Sie mit Ihrer Hausarztpraxis auf die aktuelle Corona-Epidemie eingestellt?

Katzenstein: Nein, überhaupt nicht. Wir sind nicht vorbereitet und auch nicht informiert. Die Empfehlungen von Ämtern und Behörden wechseln fast täglich und sind häufig nicht praxistauglich. Deshalb glaube ich: Wir müssen im Moment ein bisschen querdenken.

Was meinen Sie damit?

Das sich ausbreitende Virus bedeutet eine Krise, die unser Gesundheitswesen unvorbereitet trifft. Wir brauchen jetzt unkonventionelle Lösungen. Zum Beispiel müssen alte Menschen aus den Praxen herausgehalten werden. Wenn chronisch kranke Menschen das Corona-Virus bekommen, ist das Risiko deutlich erhöht. Wir haben allen Patienten, die über 70 Jahre alt sind, deshalb gesagt, die Sprechstunde zu meiden. Rezepte oder Heilmittelverordnungen können wir telefonisch ausstellen und per Post zuschicken. Im Krankheitsfall bieten wir Hausbesuche an. Ein weiterer Aspekt sind die Selbsttests.

Sie meinen den Rachenabstrich bei Verdachtspatienten. Eine aktuelle Handlungsempfehlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) besagt, dass der Arzt bzw. Praxismitarbeiter diesen entnimmt.

Solch ein Abstrich klingt einfach, ist aber kompliziert. Man kann einen Hustenreiz provozieren, ohne Schutzmasken ist der Abstrich mit erhöhten Ansteckungsrisiko verbunden. Schutzmasken sind aber zurzeit nicht zu haben. Und ohne sie geht es nicht. Auch die Leitlinien, dass wir potenziell Infizierten sofort eine Maske geben sollen, funktioniert nicht. Masken, die nicht da sind, können wir nicht ausgeben. Man könnte aber die Idee der Selbsttestung unter Hausärzten stärker forcieren. Unser Labor kann 140 Proben am Tag bearbeiten, in ganz Berlin sind es über 1.000. Damit könnte man Infektionsherde aufdecken. In den vergangenen Tagen hatte ich um die zehn Leute mit Corona-Verdacht. Denen habe ich erst mal gesagt: Bleibt zu Hause. Inzwischen sind die ersten Selbsttests angelaufen und im Labor, ich warte auf die Ergebnisse.

In einem Labor werden Proben zum Coronavirus untersucht.

Sibylle Katzenstein: „Unser Labor kann 140 Proben am Tag bearbeiten, in ganz Berlin sind es über 1.000“ Foto: Felix Kästle/dpa

Was haben Sie in Ihrer Praxis noch für Maßnahmen getroffen?

Patienten mit Erkältungssymptomen werden bei uns am Eingang darauf hingewiesen, eine andere Eingangstür zu nehmen. Die führt in ein separates Wartezimmer. Dieser Bereich kann getrennt vom Rest der Praxis agieren. Wir haben zwei Rezeptionen, zwei Laborbereiche und ein Sprechzimmer, in dem nur Infektpatienten behandelt werden. Desinfektionsmittel steht für die Patienten bereit, Türklinken werden regelmäßig desinfiziert. Wir lüften regelmäßig. Die Kontaktzeiten zu Infektpatienten halten wir kurz, um das Ansteckungsrisiko für das medizinische Personal gering zu halten.

Sie können die Patientengruppen also trennen. In vielen anderen Praxen dürfte das am Platzmangel scheitern.

Genau. Deswegen brauchen wir noch andere Maßnahmen. Ich denke, dass in ein paar Wochen jeder im Gesundheitssystem gebraucht wird – aber nicht zum Zettel ausfüllen. Deshalb ist weniger Bürokratie nötig. Die Bearbeitung von Abrechnungen oder Konsiliarberichten kostet viel Zeit und lässt sich kaum mit dem aktuellen Zustand in unserer Praxis vereinbaren. Heißt: Bürokratieabbau und eine einfachere Abrechnung. Auch sollte, wie vom KBV gefordert, die Karenzzeit für Krankschreibungen auf sechs Tage ausgeweitet werden. Dann müssten Patienten mit leichten Infekt-Symptomen nicht nur wegen einer Bescheinigung in die Praxis kommen.

Sibylle Katzenstein, Jahrgang 1966, ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Geriatrie (Altersheilkunde) und führt seit 2016 eine Hausarztpraxis in Berlin-Neukölln. Aufgrund der Lage ihrer Arztpraxis ist ihr Patientenkreis sehr international, das viel reist – und mitunter gerade in Corona-Risikogebieten wie in Italien war.

Ein anderer Aspekt: In meiner Praxis unterstützen mich zwei Studierende, die in den letzten Tagen viele Patienten gesehen, untersucht und beraten haben. Sie profitieren von der klinischen Erfahrung. Zugleich haben Sie als junge Menschen das geringste Risiko, im Falle einer Corona-Infektion ernsthaft zu erkranken. Deshalb sollten auch hier Ressourcen besser genutzt werden. Auch die Videosprechstunde, bislang auf 20 Prozent der Sprechstunden beschränkt, muss ausgeweitet werden.

Wenn Sie über Ihre eigene Arztpraxis hinausschauen, was fordern Sie von den zuständigen Behörden?

Im Moment ist das Virus gefährlich, aber es kann gut sein, dass es irgendwann zu einem normalen Grippevirus wird. Aber bis dahin müssen wir alles tun, um die Pandemie nach hinten zu verschieben. Wirklich alles! Ich meine damit auch Schulschließungen und die Absage sämtlicher Großveranstaltungen, so wie es auch Virologen fordern. Anstatt abzuwarten, brauchen wir Mut zur Improvisation.

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