Jenseits der Normalität: Alles ist brutal fragil

Je schwerer es wird, die Corona-Lage zu beurteilen, desto größer ist der Bedarf an Sicherheit. Wie kann man mündig darüber sprechen? Ein Versuch.

Wenn nichts mehr ist, wie es war: Unsicherheit in allen Lebenslagen Foto: dpa

Wenn die Normalität so extrem unterbrochen wird, ist man auf die eigene Urteilskraft zurückgeworfen. Das könnte ein Grund sein, warum die Autoritätsanhänger der letzten Tage auch in den classiclinken Neubürgerwohnungen sitzen. Sie trauen sich in dieser Lage selbst nicht mehr. Aber schon gar nicht trauen sie den anderen. Ihr Vollidiot*innen, rufen sie auf die Straße runter, staythefuckhome. Dann fordern sie auf Twitter „Ausgangssperren“.

Je schwieriger die Beurteilung der Lage, desto größer wird der Bedarf an sicherheitsstiftenden Regeln. Und Vorurteilen. Und Klopapier. Wobei ich das alles nicht verhöhnen will: Die Coronaviren, weil hochansteckend und potenziell tödlich, können einem Angst machen, und jeder Tag kann ein fiebriger Stream of Consciousness in der Achterbahn sein: In der einen Sekunde denkt man, Gottchen, das wird schon. In der nächsten erwägt man, in die katholische Kirche einzutreten.

Ich verstehe sehr wohl, dass vertrauensbildende Kommunikation wichtig ist, folge aber dafür nicht der Giovanni-di-Lorenzo-Leitartikelkultur oder Camus, die Coronaviren-Krise als kathartische Erfahrung zu beschwören, die am Ende unsere „Menschlichkeit“ kollektiv auf eine höhere Stufe heben kann. Das wäre nicht mündig, denn dieser Hoffnung fehlt es einfach an Evidenz.

Historisch gesehen ist es so, dass bei steigender Eskalation trotz autoritärer Politik irgendwann geplündert und gemordet wird. Je größer die Krise, desto geringer wird die Solidarität. Wenn meine Tochter oder meine Mutter ein Intensivstationsbett braucht, ist mir der Rest doch scheißegal. Das ist menschlich.

Ein globale Krise kann nur die Politik überwinden

Es ist großartig und wichtig, wenn Leute jetzt für andere einkaufen. Und für Einzelne kann das überlebensnotwendig gewesen sein, ohne dass sie es je wissen werden. Das ist die individuelle Ebene. Aber die globale Krise kann nicht mit „Menschlichkeit“ überwunden werden, sondern nur mit Politik. Mit koordinierter Politik. Die Politik aber ist nicht menschlich, sondern zielt auf das Allgemeine. Im Idealfall wird möglichst vielen geholfen. Aber nicht allen.

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Es kann also sein, dass man selbst am Ende nicht dazugehört. Weil man Pech hat. Oder nicht genügend Lobby. Oder keine Priorität. Die Frage des Überlebens stellt sich auch für Arbeitsplätze, die kleinen und mittleren Selbstständigen und für große Unternehmen. Je besser die Politik es hinkriegt, desto weniger Opfer wird es geben, das ist die Abhängigkeit dieser Tage.

Das Problem ist, dass es meist kein Entweder-Oder gibt: Die bestmögliche politische Antwort ist eine Frage der Balance. Für die Gewährleistung des Notwendigen, zwischen heute und morgen, dem Allgemeinen und dem Individuellen, etwa bei der Länge und der Durchsetzungsart einer Ausgangssperre. Balanciert muss das nicht autoritäre, sondern soziale Politik sein. Aber Überwachung Infizierter über Mobilfunkdaten geht gar nicht.

Was wir im Gegensatz zur Klimakrise jetzt spüren und auf umfassendere Art als nach 9/11 und 2015: Wie brutal fragil alles ist. Alles. Auch Eskalationen der globalen Flüchtlingslage sind letztlich nur Sichtbarwerdungen von politisch ignorierten Dauerkrisen. Nun wird Weiteres sichtbar, was im Normalbetrieb ignoriert wird: Der Status quo im Gesundheitswesen, die Abhängigkeiten in einer globalisierten Gesellschaft. Von China. Aber vor allem von Europa. Mit Grenzschließungen kann man weder ein Virus bremsen noch die Erderhitzung. Ohne ein starkes Europa kein starkes Deutschland. Und umgekehrt.

Die Frage wird sein, ob eine heterogene Mehrheit nach überstandener Krise die Kraft hat, die nächste Bundesregierung damit zu beauftragen, die EU resilient für die Zukunft zu machen.

Das muss das Ziel der Mündigen sein.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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