Mit Smartphone gegen die da unten

Peter Kern untersucht in einer Studie „Die Angestellten zwischen Büroalltag und Fluchtphantasie“

Von Micha Brumlik

Es ist neunzig Jahre her, dass Siegfried Kracauer sein Buch „Die Angestellten“ publizierte. Trotz einiger Versuche der Mittelschichtsoziologie hat es keine Nachfolge gefunden. Kracauer befasste sich mit einem für die 1930er Jahre neuem Phänomen, das die Kategorien klassischer marxistischer Analyse hinter sich ließ: Lohnabhängige mit eher geringem Einkommen, die gleichwohl von Lebensstil und Mentalität nicht die Werte und Formen des Industrieproletariats teilten.

Die Filmtheoretikerin Gertrud Koch charakterisiert Kracauers Blick so: „In dem Maße, in dem die Angestellten das Vorhandensein einer Mitte zwischen Arbeitern und Selbständigen suggerieren, soll auch ihr Äußeres von der durch den Arbeitsmarkt erzwungenen Versöhnung zwischen den Extremen künden.“

Im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung verschwindet die Industriearbeiterschaft als Klasse, wird in Teilen durch das „Prekariat“ ersetzt, wie aber steht es um die „Angestellten“? Dieser Frage hat sich Peter Kern, ehemaliger politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall, in seinem Lang­essay „Die Angestellten zwischen Büroalltag und Fluchtphantasie“ gestellt.

Kern hat ihm ein Zitat von Paulus vorangestellt, nachdem jene Glieder des Leibes, die am schwächsten scheinen, womöglich die nötigsten sind. Sollten dies die Angestellten in der postindustriellen Gesellschaft sein? Kerns Buch umfasst über zwanzig Kapitel: Von „Das Büro im Regelbetrieb“ über „Spezialisten und Low Performer“ sowie „Der Rucksack-vom Bauzaun zum Büro“ bis zu „Angestelltenbewusstsein? Selbstaufklärung!“

Dem Autor ist bewusst, welch großem Vorbild er nacheifert, besteht doch Kracauers Studie aus einem gekonnten Mix aus Anekdoten, theoretischen Analysen und essayistischen Reflexionen. Dem entspricht Kern, wenn er feststellt: „Von einer bürgerlichen Kultur im Unterschied zu Angestelltenkultur zu reden, macht längst keinen Sinn mehr. Die bürgerliche Gesellschaft ist so konturlos geworden, weil sie seit der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert den Angestellten, sofern sie zeitgemäße Funktionen erfüllten, immer wieder Aufnahme bot. Die unzeitgemäßen Fraktionen gingen unter oder proletarisierten sich, die jeweils modernen durften sich nach dem Mittelstand geadelt fühlen und sich nach einer Bürgerlichkeit sehnen, die schon Kracauer als ‚verschollen‘ bezeichnete.“

Die heutigen Angestellten pflegen das Grundmuster eines „überschaubaren Sets typischer Waren“, etwa das Smartphone. Hinzu kommt ein Verhöhnen der Unterschicht, gezeigter Lifestyle wie der Urlaub in Florida und betonte Genussfähigkeit. Für die politische Organisation dieser Lohnabhängigen, das weiß der ehemalige IG-Metall-Sekretär nur zu gut, führt das zu erheblichen Schwierigkeiten, was sich aber die Gewerkschaften selbst zurechnen lassen müssen, sind doch Unternehmen und Verbände eifrig damit befasst, den „Graben zwischen Gewerkschaften und Angestellten offen zu halten“. Das wird durch den Umstand verschärft, dass die Angestellten laut Kern nicht gelernt haben, ihre Lage anders als aus einem individuellen Blickwinkel zu sehen.

Sie neigen Prestigekonsum und simulierter unternehmerischer Verantwortung, aber auch mangelndem Selbstbewusstsein zu. Mit Peter Kerns anschaulicher wie luzider Studie steht den Analysen über die „Gesellschaften des Zorns“, also die sozialen Hintergründe des Rechtspopulismus, vor allem aber jener über die „Gesellschaft der Singularitäten“ ein Werk zur Seite, dem es gelingt, diese Gegenwart aus der vermeintlich obsolet gewordenen Perspektive der Klassenanalyse zu beleuchten.

Peter Kern: „Die Angestellten zwischen Büroalltag und Fluchtphantasie“. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2019, 152 Seiten, 15 Euro