„Die genetische Disposition spielt eine sehr viel größere Rolle“

Friedrich Schorb forscht an der Uni Bremen über die Erschaffung des „Übergewichts“

Foto: Uni Bremen

Friedrich Schorb,42, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Studiengang Public Health an der Uni Bremen. Derzeit arbeitet er in einem DFG-Forschungsprojekt zu „Fat Studies“

Interview Nadine Conti

taz: Herr Schorb, richtet die Verachtung, die man dem Dicksein entgegenbringt, mehr Schaden an als das Dicksein selbst?

Friedrich Schorb: Das ist absolut so. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Untersuchungen zu Gewichtsdiskriminierung in verschiedenen Lebensbereichen – ob das der Arbeitsmarkt, die Intimbeziehung oder das Gesundheitswesen ist. Dort ist es dann zum Beispiel so, dass Beschwerden vorschnell abgetan werden – nach dem Motto: „Nehmen Sie erst einmal 20 Kilo ab und kommen sie dann wieder“. Darunter leidet die Qualität der Untersuchungen, außerdem führt es dazu, dass Arzttermine und Vorsorgeuntersuchungen gemieden werden, Krankheiten verschleppt und zu spät behandelt werden.

Glauben Sie, dass langsam ein Umdenken stattfindet?

Ja, erst in der vergangenen Woche gab es einen großen Aufruf aller großen, internationalen Fachgesellschaften aus dem Bereich Adipositas, der sagt, dass wir dieses Problem viel ernster nehmen müssen. Darin betonen sie auch die Mitverantwortung vieler Gesundheitskampagnen und sagen, dass das Personal im Gesundheitswesen hier besser geschult und sensibilisiert werden muss. Da gibt es schon ein Umdenken. Aber in der Basis, bei den Hausärzt:innen, in den Präventionsprogrammen ist das natürlich noch nicht angekommen. Da herrschen zum Teil noch medizinisch völlig überholte Ansichten vor.

Wer bestimmt eigentlich, wer fett ist, und was sind die Maßstäbe?

Das ist natürlich immer noch maßgeblich der Body-Mass-Index (BMI), obwohl man weiß, dass der kaum etwas über den Anteil an Körperfett und die Körperfettverteilung aussagt – die aber gesundheitlich viel entscheidender sind. Der BMI ist vor allem deshalb beliebt, weil er leicht zu erheben ist. Auch die Festlegung der Grenzwerte hat ihre Tücken. Man hat in den USA erst einmal mit Perzentilen gearbeitet: Die oberen 15 Prozent einer untersuchten Gruppe sind übergewichtig, die obersten 5 Prozent adipös. Dabei ist man allerdings noch von den 20- bis 29-Jährigen ausgegangen. Früher hat man nach Alter und Geschlecht differenziert, aber das fiel dann ganz schnell weg.

Ist das auch in anderen Ländern der Maßstab?

Ende der 1990er-Jahre kam die WHO und setzte die Grenzwerte international noch einmal ein Stückchen niedriger an: auf einen BMI von 25 fürs Übergewicht und von 30 für Adipositas. Was zur Folge hatte, dass über Nacht in den USA 35 Millionen Menschen, die vorher normalgewichtig waren, übergewichtig wurden. In den anderen Ländern hatte man meist noch keine Vergleichswerte. Aber mittlerweile sprechen wir davon, dass in fast allen entwickelten Ländern – abgesehen von ein paar asiatischen Ländern wie Japan und Südkorea – die Mehrheit der Erwachsenen übergewichtig ist. Dabei ist sich die Epidemiologie gerade bei diesem Bereich mit etwas erhöhtem Körpergewicht gar nicht einig, ob damit tatsächlich gesundheitliche Risiken verbunden sind. Das ist dasselbe Phänomen wie beim Bluthochdruck oder dem Cholesterin – man setzt die Grenzwerte immer niedriger und kommt dann zu dem Schluss, dass die Mehrheit gefährdet ist.

Ist das eine Selbstbeschäftigungsmaßnahme des Gesundheitswesens oder der Gesundheitsindustrie?

Schon der Industrie. Da stehen Geschäftsinteressen dahinter. Die Kommission, die empfohlen hat, die Grenzwerte so niedrig anzusetzen, war durchsetzt von Experten – alles Männer übrigens –, die finanzielle Verbindungen zur Pharmaindustrie hatten. Damals setzte man noch große Hoffnungen in die Entwicklung von Medikamenten gegen das Übergewicht. Dafür brauchte man eben auch einen Massenmarkt. Mittlerweile hat man das aufgegeben, jetzt ist die Chirurgie das entscheidende Geschäftsfeld.

Und was sagen Sie zu Diäten? Da sagt man den Leuten ja auch ständig: „Na ja, iss halt weniger und beweg dich mehr“ – obwohl man weiß, dass der Effekt in vielen Fällen gering ist.

Ja, bis in die 1980er- und 1990er-Jahre ging man von diesem relativ simplen Energiebilanzmodell aus – was an Kalorien reinkommt, muss an Kalorien auch wieder raus und fertig. „Alternative Modelle – wie den Setpoint-Ansatz, der eben sagt, der Körper stellt sich aber darauf ein, wenn weniger Kalorien konsumiert werden, und passt den Grundumsatz an –, die wurden als Ausreden abgetan. Das wandelt sich mittlerweile. Man hat einsehen müssen, dass die genetische Disposition – im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren – eine sehr viel größere Rolle spielt.

Was müsste passieren?

Beim gesellschaftlichen Bewusstsein bleibt noch eine Menge zu tun. Hier sind die Menschen, denen bewusst ist, dass Dicksein kein Verhaltensproblem ist, immer noch in der Minderheit. Auch bei den Dicken selbst übrigens. Es gibt kaum ein Problem, wo man eine so starke Internalisierung dieser negativen Haltung bei den Betroffenen beobachten kann.

Und was könnte man politisch tun?

Eine Aufnahme der Gewichtsdiskriminierung in das Antidiskriminierungsgesetz wäre sicher hilfreich. Es würde den Betroffenen etwas an die Hand geben, rechtlich gegen die allgegenwärtige Diskriminierung vorzugehen – und vor allem ein sehr starkes Signal setzen.