Zuständigkeiten beim Coronavirus: In den Händen überforderter Ämter

In der größten Gesundheitskrise nach dem Krieg hat nicht der Gesundheitsminister das letzte Wort, sondern unterversorgte Gesundheitsämter entscheiden.

Eine FFP3 Atemschutzmaske

Eine FFP3-Atemschutzmaske Foto: Karl-Josef Hildebrand/dpa

BERLIN taz | Der italienische Ministerpräsident erklärt sein Land per Dekret zur Sperrzone. Die polnische Regierung sagt alle Massenveranstaltungen ab. Tschechien schließt sämtliche Schulen, Israel schickt Einreisende pauschal für zwei Wochen in Heimquarantäne.

Die Maßnahmen, die andere Länder inzwischen ergriffen haben mit dem Ziel, die Ausbreitung des Coronavirus zu entschleunigen und auf diese Weise ihre nationalen Gesundheitssysteme zu entlasten und Menschen das Leben zu retten, sie muten drastisch und dramatisch an – zumindest im Vergleich mit dem weithin moderaten, um Verständnis werbenden Ton, der auch am Dienstag hierzulande die Debatte bestimmte, inwieweit das öffentliche Leben in Deutschland eingeschränkt werden soll und darf.

So „plädierte“ der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, immerhin Deutschlands oberster Seuchenschützer, lediglich dafür, nicht zwingend notwendige Veranstaltungen „abzusagen oder zu meiden“, und fügte nahezu bittend hinzu: „Und aus meiner Sicht kann man eben auch verzichten, zu einem Fußballspiel zu gehen.“ Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beließ es bei seinem „Appell“, Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Personen abzusagen; von flächendeckenden Schulschließungen halte er dagegen nichts.

Das muss Spahn auch nicht. Eine entsprechende Anordnung fiele, so absurd es in der wohl größten Gesundheitskrise der Nachkriegszeit anmuten mag, ohnehin nicht in seinen Kompetenzbereich als Bundesminister. Selbst Kanzlerin oder Bundespräsident sind einer Weisung, eine einheitliche Regelung herbeizuführen, und sei es nur für den Umgang mit Fußballspielen, allenfalls moralisch mächtig.

Wie so oft: Ländersache

Denn anders als in vielen zentralistisch regierten Staaten – Frankreich etwa – sind für den öffentlichen Gesundheitsdienst, in dessen Aufgabenbereich nach dem Infektionsschutzgesetz auch unpopuläre „Schutzmaßnahmen“ zur Bekämpfung von Seuchen fallen, in Deutschland die Länder zuständig.

Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen aus der NS-Diktatur setzte und setzt die Bundesrepublik auf ein möglichst dezentrales Gesundheitswesen. Laut Gesetz können die Länder Rechtsverordnungen erlassen, die der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten dienen. In der Praxis aber überlassen sie es seit jeher lieber den rund 380 weitgehend kommunalen Gesundheitsämtern in Deutschland, nicht nur den Infektionsschutz zu überwachen und durchzusetzen, sondern auch den Impfschutz von Kindern sicherzustellen, psychisch Kranke bei Bedarf unterzubringen, das Trinkwasser zu überwachen oder Kinder vor der Einschulung zu untersuchen.

Aktuell müssen sie zusätzlich vom Coronavirus Infizierte und deren Kontaktpersonen ermitteln, Verdachtsfälle abklären sowie Infektionsschutz- und Quarantänemaßnahmen entwickeln. Und dazu zählt dann eben auch, sich durch die Absage kultureller oder sportlicher Veranstaltungen unbeliebt zu machen oder die Gefahr von Klassenfahrten in vermeintliche Coronakrisengebiete zu beurteilen. Die Entscheidung erfolgt jeweils im Einzelfall und im Ermessen der 380 Ämter – also im Zweifel 380-mal unterschiedlich und entsprechend chaotisch.

„Der Föderalismus hat sehr viele Vorzüge. Aber hier ist das ein Nachteil“, stellte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach am Dienstag im „ZDF-Morgenmagazin“ fest. „Das Verlagern solcher Entscheidungen auf die kommunale Ebene ist dem Bürger nicht zu erklären“, sagt auch die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ute Teichert, im Gespräch mit der taz. Nötig sei eine zentrale Ansage, wie etwa mit Großveranstaltungen umzugehen sei. Stattdessen lasse die Politik die Ämter vor Ort zu oft allein – Drohungen verständnisloser Veranstalter, die auf Entschädigung pochen, und Beschimpfung seitens aufgebrachter oder verunsicherter Bürger inklusive.

Heillose Überforderung

Die Gesundheitsämter aber seien schon jetzt heillos überfordert, ihren hoheitlichen Aufgaben nachzukommen, beklagt Teichert. Und das liege keineswegs an mangelndem Willen, an Schnarchnasigkeit oder Unkenntnis, die den Beschäftigten vor Ort mitunter zu Unrecht unterstellt werde. „In Folge eines stetigen Personalabbaus und nicht besetzter Stellen ist die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in den Gesundheitsämtern in den vergangenen 20 Jahren um etwa ein Drittel zurückgegangen“, sagt Teichert. „Der öffentliche Gesundheitsdienst läuft Gefahr, seine bevölkerungsmedizinischen Aufgaben nicht mehr zu bewältigen.“

Mit ihrer Kritik steht Teichert keineswegs allein da. Die Stadt Lübeck etwa sendete bereits vor zwei Jahren ein öffentliches SOS, weil für die Schuleingangsuntersuchungen der Abc-Schützen schlichtweg keine Ärzte mehr zur Verfügung standen. „Die personelle Ausstattung ist unter Corona zunehmend schwierig“, sagte ein Sprecher der Stadt am Dienstag der taz.

Rund 2.500 Ärztinnen und Ärzte arbeiten Schätzungen des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes in den kommunalen Gesundheitsämtern; wie viele Beschäftigte es insgesamt sind, ist unbekannt; das Statistische Bundesamt erfasst diese Zahlen seit Ende der 1990er Jahre nicht mehr. Doch erst vor wenigen Wochen, zur Einführung der Masernimpfpflicht an Kitas und Schulen, erinnerte der Deutsche Städtetag an die personelle und finanzielle Unterversorgung der Gesundheitsämter.

„Wir haben die Gesundheitsämter jahrelang ausbluten lassen“, räumte Hilde Mattheis, Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion für den öffentlichen Gesundheitsdienst, am Dienstag selbstkritisch ein. Nun gebe es „dringenden Handlungsbedarf“. Der öffentliche Gesundheitsdienst müsse „strukturell neu aufgestellt“, die Gesundheitsämter müssten auch mit Bundesmitteln besser ausgestattet werden. Der Bundesinnenminister und der Bundesgesundheitsminister, so Mattheis, seien „aufgefordert, dafür einen Vorschlag zu machen“. Und tatsächlich läge dies wohl in ihrer Kompetenz.

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