„Power“ von Verena Günther: Der verschwundene Hund

Zwischen bedrohlich und surrealistisch: Verena Güntner erzählt in „Power“ von der Selbstermächtigung der Kinder und einem Dorf im Ausnahmezustand.

Zwei Kinder stehen mit einem Hund im Wasser. Eines versucht einen Strohballen zu bewegen.

Dorfidylle mit Kindern, Hund und Überschwemmung Foto: dpa

Wenn Kinder in Geschichten aufregende Abenteuer erleben, pflegt eine Grundvoraussetzung dafür zu sein, dass sie gerade keine Eltern haben – weil entweder die Kinder im Internat leben („Harry Potter“) oder weil die Eltern zu beschäftigt sind („Fünf Freunde“), so arm, dass sie ihren Nachwuchs einfach aussetzen („Hänsel und Gretel“), oder schlicht von einer mysteriösen Macht weggebeamt wurden (in der Jugendbuchreihe „Gone“).

Verena Güntners zweiter Roman „Power“ steht gewissermaßen in dieser literarischen Tradition der Elternlosigkeit. Er ist aber auch keineswegs ein Kinderbuch, und das auch deswegen nicht, weil er die Grundvoraussetzung umdreht: In „Power“ sind nicht die Erwachsenen plötzlich verschwunden, sondern die Kinder.

Alles beginnt damit, dass Kerze, ein umtriebiges elfjähriges Mädchen, einer alleinstehenden alten Frau, der Hitschke, hilft, ihren verschwundenen Hund zu suchen (der Hund heißt „Power“). Hitschke und Kerze wohnen in einem Dorf, das idyllisch nahe am Wald liegt. Die Sommerferien stehen vor der Tür. Zu Beginn betreibt Kerze ihre Suche allein, doch allmählich schließen sich ihr immer mehr Kinder an, bis eines Tages alle Kinder des Dorfes verschwunden sind – tief in den Wald hinein, wo sie als Rudel leben und hündisches Verhalten trainieren.

Der Waldrand fungiert wie eine unsichtbare Barriere: Aus irgendeinem Grund ist keine erwachsene Person in der Lage, ihn zu übertreten. Heimlich schleppt die Hitschke täglich Essen zum Wald, wo es abgeholt wird, wenn sie den Rücken kehrt. Im Dorf wird sie für das Verschwinden der Kinder verantwortlich gemacht und mit der Zeit immer erbarmungsloser gemobbt.

Verena Güntner: „Power“. Dumont Buchverlag, Köln 2020, 250 Seiten, 20 Euro

Verena Güntners Erzählen besticht durch seinen frischen, gradlinigen Duktus; es ist eine Prosa ohne Geheimnisse. Eine Heiterkeit im Ton liegt darin, eine Verspieltheit, der man zunächst nicht ganz trauen möchte, die aber so zuverlässig anhält, dass sie schließlich dafür sorgt, dass man sich letztlich gar nicht mehr sorgt und weiß: Hier wird nichts passieren. Zu Beginn scheint zwar durchaus eine Diskrepanz zwischen dieser sprachlichen Unbekümmertheit und den geschilderten Geschehnissen zu bestehen.

Das Setting ist in seiner Anlage mehr als nur milde surrealistisch, es hat bedrohliches Potenzial: Da ist ein Haufen Kinder allein im Wald, die auf Hundeweise aggressiv werden, wenn man versucht, sie zurückzuholen. Ein Haufen Erwachsener, die tatenlos ans Dorf gefesselt sind und die einzige Person quälen, die noch Kontakt zu den Kindern hält. Und die einfältige, hundelose Frau Hitschke, die nicht zu wissen scheint, wie ihr geschieht, hat letztlich doch als Einzige etwas zu verbergen.

Aber weil dies eben kein actionreicher Jugendlichen-Katastrophenroman ist, sondern eine irgendwie symbolhaft gemeinte Geschichte für Erwachsene, passiert trotz der anfänglich gefühlten Bedeutungsdiskrepanz letztlich eben: gar nichts. Das angedeutete Bedrohungspotenzial wird nicht ein- und die Ausnahmesituation einfach wieder aufgelöst.

Eine Entwicklung hat nicht stattgefunden; oder wenn, dann außerhalb der Wahrnehmungsreichweite der Leserin. Aber wozu dann das alles, lässt sich da fragen. Falls doch noch ein Geheimnis hinter dem Ganzen liegt, so liegt es gut verborgen. Immerhin: Das Buch liest sich weg wie nichts, denn sein sehr lebendiger Erzählton nimmt einen umstandslos mit. Der Nachhall aber tendiert dann doch eher gegen null.

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