Solidarität nach dem Anschlag in Hanau: Abgenutztes Ritual

Ein paar warme Worte vielleicht, sonst einfach weitermachen wie bisher. Das geht nur für jene, die den Luxus haben, nicht bedroht zu sein.

Der Bundespräsident spricht ins Mikrofon auf der Trauerfeier in Hanau

Große Betroffenheit in Hanau, aber die NSU-Akten bleiben weiter unter Verschluss Foto: Boris Roessler/dpa

Seit Tagen frage ich mich, wie sich das wohl anfühlt, wenn man nach Hanau einfach weitermachen kann, als wäre nichts passiert? Wenn das Einzige, was die Karnevalsfeier bedroht, das schlechte Wetter ist?

Und wie fühlt es sich an, wenn ein warmes „Wir sind mehr“ reicht, um die Welt wieder geradezurücken? Was soll dieses Beschwören der Überzahl bewirken – und vor allem für wen? Klar, Solidarität, Beistand, die Hand halten. Das ist wichtig, aber auch ein zunehmend abgenutztes Ritual. Wer hält hier wem die Hand? Und was bedeutet die Überzahl heute noch – das ist ja kein Fußballmatch. Es werden hier Menschen von Rassisten und Antisemiten bedroht und ermordet. Obwohl wir in der Überzahl sind.

Wir sind mehr. Aber was heißt das? Heißt das, dass mir zwei Leute mitfühlend die Hand halten, während mir ein anderer die Waffe an den Kopf hält? Der Gedanke, in der Überzahl zu sein, hilft vor allem denjenigen, die ihr Gewissen beruhigen wollen. Denen, die noch glauben wollen, dass das nicht das Land ist, in dem wir leben. Denen, die nach so einer Tat nicht nachts wachliegen und sich fragen, ob sie sich in Gefahr begeben, allein weil sie hier leben und für ihre Rechte einstehen.

„Rassismus ist ein Gift“, sagt Angela Merkel. „Und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft und es ist schuld an schon viel zu vielen Verbrechen.“ Doch das stimmt nicht. Der Rassismus ist nichts, was nur von außen kommt. Nichts, das gerade eingeimpft wurde durch ein paar Rechtsextreme und Rechtspopulisten. Es ist fahrlässig, sich einzureden, dass der tief verwurzelte gesellschaftliche, strukturelle, internalisierte Rassismus in Deutschland nichts mit der Schoah und dem Kolonialismus zu tun hat. Dass er nichts mit einem selbst zu tun hat, nichts mit Freunden und Familie.

„Diese Tat richtete sich gegen uns alle“, sagte Christian Lindner zu Hanau, und falscher wird es nur noch, wenn Julia Klöckner twittert, dass „wahllos Gäste einer Shishabar erschossen“ wurden. Lindner und Klöckner versuchen hier ganz bewusst den Eindruck zu erwecken, dass es jeden hätte treffen können. Um sich nicht damit befassen zu müssen, was das alles mit der Nachlässigkeit und der Arroganz ihrer Parteien zu tun hat. Und nein, Hanau war auch kein Versuch, die Gesellschaft zu spalten. Es war ein Versuch, Teile dieser Gesellschaft zu ermorden.

„Wir lassen uns nicht einschüchtern“, sagt Frank-Walter Steinmeier in Hanau. Das lässt sich bestimmt leicht sagen, wenn man für einen Moment vergessen kann, dass nur eine Holztür eine Bluttat in Halle verhindert hat. Oder dass wir seit verdammten 15 Jahren darauf warten, dass Oury Jalloh und seiner Familie Gerechtigkeit widerfährt. Oder, wenn man selbst auch gut damit leben kann, dass die NSU-Akten unter Verschluss gehalten werden, während weiter Menschen ermordet werden.

Hinweis: Dieser Text wurde am Sonntag, 23. Februar 2020 geschrieben – bevor am Montag ein Auto in einen Rosenmontagszug in Volkmarsen gefahren ist und mehrere Menschen verletzt hat. Daraufhin wurden alle Fastnachtsumzüge in Hessen abgebrochen.

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Schreibt über Gesellschaft, Politik, Medien und manchmal über Österreich. Kolumne "Kinderspiel". War 2013 Volontärin der taz panter-Stiftung, dann taz-Redakteurin. Von 2019 bis 2022 Ressortleiterin des Gesellschafts- und Medienressorts taz zwei. Lebt und arbeitet in Wien.

Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

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Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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