Flaschenpost aus der Vergangenheit

In Zeiten elektronischer Kommunikation gilt der Brief als aussterbendes Medium, als Artefakt einer untergehenden Kultur. Auf Flohmärkten jedoch findet er genau aus diesem Grund immer mehr Liebhaber. Ein Streifzug durch eine boomende Branche zwischen „Big Brother“ und Briefmarken

VON NATALIE TENBERG

Sonntags herrscht Hochbetrieb auf den Gehsteigen der Straße des 17. Juni in Berlin. Der Antik- und Trödelmarkt, der jede Woche neben der mehrspurigen Ausfallstraße veranstaltet wird, kommt gut an. Durch die Gassen, die durch hunderte von Ständen gebildet werden, zwängen sich die Menschenmassen. An einem Stand werden Möbel und Porzellan verkauft, an einem anderen alte Comics neben russischen Militärmützen. Es gibt sowohl alte Bauhaus-Möbel zu kaufen wie auch Schallplatten und CDs. Genauso unterschiedlich wie die Ware auf diesem Markt sind auch die Käufer. Ein älteres Touristenpaar aus Portugal schlendert neben Jugendlichen aus Berlin. Besucher feilschen mit Händlern um einen Rabatt. Ohne Erfolg, denn die Händler an diesem Markt gelten als besonders hart und unnachgiebig. Dies ist kein Schnäppchenmarkt.

An einem Stand am östlichen Ende des Marktes werden Bücher, Möbel und Bilder verkauft, auf einem Tisch steht ein unscheinbarer Schuhkarton. Er ist geöffnet, und immer wieder bleiben Menschen stehen und ziehen etwas heraus. Es sind Briefe. Alte, zerfledderte und vergilbte. Dünne Aerogramme aus blauem Papier, Geburtstagskarten mit Rissen und Dellen, die Adressen mit den unregelmäßigen Buchstaben einer Schreibmaschine getippt. Eine junge Frau betrachtet versunken einen Brief. „Haben Sie den schon ausgelesen, oder wollen Sie den auch kaufen?“, meckert die Besitzerin des Standes mit ihrer Berliner Schnauze. Ihr Mann steht hinter ihr, trinkt Kaffee und bewacht den Stand. Die eingeschüchterte Kundin kauft den Brief und verschwindet im Getümmel. In dem Karton liegt Privatkorrespondenz. Für 50 Cent wechseln die Briefe ihren Besitzer. In diesen Briefen stehen die Geheimnisse von Fremden, aber auch banale Gegebenheiten aus ihrem Leben, die sie anderen mitteilen wollten. Nun ist es Ware, die rausmuss.

Am Stand nebenan werden private Schnappschüsse verkauft. Ein 10er-Bündel Schwarzweißfotos mit gezacktem Rand kostet 2 Euro. Sowohl die Briefe als auch die Fotos bieten die Möglichkeit, in ein fremdes Leben hineinzuschauen. Aber anders als bei einem Voyeurismus der Marke „Big Brother“ sind die Briefe ein Ausschnitt aus einem wahren Leben, das sich unverfälscht davon, dass es kommuniziert werden würde, zugetragen hat. Es ist authentisch und deswegen spannend: Genau so hat es sich zugetragen. Dazu sind die Briefe und Fotografien Zeugnisse aus einer vergangenen Zeit – der historische Moment, der diesen alten Dokumenten anhängt, lässt keine Scham darüber aufkommen, dass man in das Privatleben anderer Menschen vordringt. Weiterhin bedienen diese Briefe die Freude am haptischen Element in der Kommunikation. Eine Nachricht zu bekommen und sie auch anfassen zu können, ist selten geworden. Deswegen kaufen Menschen, die ihr E-Mail-Account mit einem Passwort schützen, fremde Briefe. In ihnen ist eine vergangene Zeit bewahrt.

Der Umstand, dass die Briefe schon geöffnet sind, trägt zur Freude bei: Dieses Schriftstück hatte einen Zweck und dieser Zweck ist so gut erfüllt worden, dass es bis jetzt aufbewahrt wurde. Das muss schon etwas Besonderes sein. Ein ungeöffneter Brief, bei dem die Botschaft noch nicht beim Empfänger angekommen ist, hat den Reiz eines Topflappens. Dabei sind auch geöffnete Briefe eine persönliche Angelegenheit. Bis zur E-Mail-Ära war ein Brief die einzige schriftliche Kommunikationsmöglichkeit zwischen Menschen über eine weite Distanz. Er war ein Medium, das der Unterhaltung diente, erzählte Geschichten oder auch Geheimnisse, die ein Freund anvertraut. Auch Nina Schröder bekam Briefe, die ihr aus einer fremden Welt erzählten und später auf dem Trödelmarkt landeten.

So schrieb beispielsweise ein Freund, der ausdrücklich schreibt und unterstreicht: „Bitte erzähle es niemandem!“, über eine gescheiterte Beziehung, deren Ende ihn mutlos und traurig hinterlässt. Ihr Sohn, der nach Australien ausgewandert war, erzählt von seinem Weihnachtsfest 1963. Er wundert sich über die vielen freien Tage, nennt seine neue Heimat das „Arbeiterparadies Australien“. Auf einer Karte schreibt Barbara Vogel 1963, dass sie gerne zum Musizieren vorbeikäme. Sie redet Nina Schröder mit „Gnädige Frau“ an. Ist es die Sängerin Barbara Vogel, die vielleicht mit Hilfe der Nina Schröder ihre Liebe zur Musik entdeckte? Das sich fügende Bild des fremden Lebens ist ein sympathisches. Wenn jetzt noch die passenden Fotos dazu gefunden würden, wäre mehr Nachlass von Nina Schröder im Haushalt als von der eigenen Großmutter. Zwischen den verschiedenen Briefen liegen Dekaden, ein Zeichen dafür, wie teuer Nina Schröder ihre Briefe waren, die sie aufhob, bis sie nun billig verramscht werden.

Bei einem Brief gibt der Absender die Macht über das Dokument aus seiner Hand. Der Adressat kann darüber entscheiden, ob er einen Brief anderen zeigen mag oder nicht. Oft hat der Absender Vertrauen, verlässt sich darauf, dass der Adressat die geschriebenen Bekenntnisse und Offenbarungen für sich behält. Die Briefe von den Menschen, die einem am liebsten waren, wurden gesammelt, zum nochmaligen Durchlesen oder aus gefühlsduseligen Gründen. Deswegen erzeugt ein Brief auch heute noch Respekt, den eine E-Mail selten kennt. Wegen der gerade nicht interaktiven Natur des Briefes, sondern der Zeitverzögerung zwischen dem Schreiben, Lesen und Antworten hat der persönliche Brief auch heute noch eine gesellschaftliche Funktion. In einigen Situationen erleichtert er wegen seiner entschleunigten Natur das Verständnis. Es fehlt ihm an Dialog; eine unmittelbare Antwort wird nicht erwartet. Egal ob der Brief mit der Post geschickt wird oder auf dem Küchentisch hinterlegt wird.

In Briefen erzählen Menschen ihre persönlichen Geschichten, aber in diesen ist die Weltgeschichte verborgen. So oder so, genau ein Bruchstück der Lebensgeschichte der Nina Schröder liegt nun auf dem Flohmarkt zum Verkauf.

An dem Stand, an dem die Kundin verscheucht wurde, ist der Mann der Händlerin wenig gesprächig, wenn es um die Briefe geht. „Das ist doch total normal“, sagt er. „Man kann diese Briefe überall kaufen. Da brauchen Sie doch nur die gelben Seiten aufzuschlagen. Haushaltsauflösung.“ Er ist von der Frage amüsiert, ob Menschen die Briefe wegen des Inhalts kaufen. „Besser als die Briefe geht die Feldpost.“ Die wird an einem anderen Stand schräg gegenüber verkauft. In diesen Briefen schreiben Soldaten nach Hause, berichten aus ihrem Einsatzgebiet. Der Händler hat sich auf Feldpost aus dem Zweiten Weltkrieg spezialisiert. Ein obskures Feld. Er bietet einen Brief aus dem Jahr 1944 mit dem Schriftzug „SS-Feldpost“ für 18 Euro an. „Die Stempel, die sind was wert“, sagt er. Dass Nazi-Symbole Geld bringen, das findet er normal. „Die Menschen, die das sammeln“, verteidigt er seine Kunden, „die sind nicht verrückt. Das sind Menschen aus der Ober- oder Mittelklasse, keine Skinheads.“ Auf die Frage, ob er das genauer definieren kann, sagt er: „Das sind Menschen, die ihr Heimatland lieben. So einfach ist das.“ Neben ihm steht ein Kunde, an dessen Kleidung man schon erkennt, dass er sein Land vielleicht mehr liebt, als es dem Land lieb ist.

Nach den Aussagen des ersten Verkäufers wird es dieses Abfallprodukt nicht mehr lange geben. „Die Sammler sterben aus“, sagt er. Den Markt für NS-Briefe hingegen sieht der zweite Händler nicht gefährdet, sondern sagt stolz: „Dieses SS-Zeichen ist sehr selten.“

Der Inhalt ist also nicht das primäre Kaufargument. Er ist ein Beiprodukt, die ehemalige Verpackung ist nun das Kaufargument. Jetzt ist es die Hülle, heute gibt es keine mehr. Somit geschieht eine Umkehrung des Wertes des Briefes. Gerade die Botschaft, die vormals den hohen ideellen Wert eines Briefes ausmachte, wird von den meisten Kunden nur als Abfallprodukt gesehen. Auch der Händler kratzt sich nur ratlos am Kopf: „Inhalte? Die Leute sind nur scharf auf die Briefmarken.“