„Die Geburt ist die erste Beziehungskrise“

Bei der Bewältigung solcher Krisen kommen Eltern und Partnern zentrale Aufgaben zu, sagt der Jenaer Sozialpsychologe Bruno Hildenbrand. Fehlen familiäre Bindungen, können Menschen in soziale Isolation geraten

taz: Her Hildenbrand, eine Frau wird verdächtigt, neun Mal in Folge ihre neugeborenen Babys getötet zu haben. Welche Schuld trägt die Gesellschaft?

Bruno Hildenbrand: Pauschal zu sagen, die Nachbarn haben weggeschaut, und die Individualisierung der Gesellschaft zu beklagen, halte ich für nicht hilfreich. Wir leben nicht grundsätzlich in einer Welt, die soziale Isolierung fördert. 80 Prozent der Deutschen leben in Paarbeziehung, ganz zu schweigen von der Verwandtschaft. Daran hat sich im Laufe der Jahre wenig geändert, nur die Formen des Zusammenlebens haben sich verändert. Aber man könnte vermuten, dass diese Frau sozial isoliert war.

Wie können sich Menschen sozialer Kontrolle so vollständig entziehen?

Ein typisches Verhaltensmuster von sozial Isolierten ist, dass sie häufig umziehen. Sie sind dann jeweils ein unbeschriebenes Blatt. Aber soziale Kontrolle ist ein etwas einseitiger Begriff. Es geht um soziale Bezüge, die die Gestalt von Kontrolle annehmen können. Man muss im vorliegenden Falle fragen: Wo sind die Väter? Wo die Eltern?

Welche Krisen treten allgemein in Familien nach der Geburt eines Kindes auf?

Die Geburt an sich ist die erste Krise in der Beziehung zwischen Mutter und Kind. Der Akt der Geburt ist ein Trennungsakt. Sobald es geboren ist, gewinnt das Kind ein Eigenleben. Vielleicht hat diese Frau das nicht ausgehalten.

Wie werden solche Konflikte normalerweise bewältigt?

Der Familie kommen zentrale Aufgaben zu. Bei der Geburt wird die Mutter adäquat unterstützt. Babyforscher Daniel Stern sagt, dass noch vor dem Vater die Großmutter zunächst die entscheidende Unterstützungsperson sei.

Es fällt auf, dass gerade in Brandenburg häufiger solche spektakulären Fälle von Kindesvernachlässigung auftauchen. Warum gerade im Osten?

Die sozialen Unterstützungssysteme, die im Wesentlichen als Kontrollsysteme funktionierten, sind in diesem Maße nicht mehr vorhanden. Ein Beispiel: In der DDR gab es einen Gesundheitspass, wo alles von der Kleinkinduntersuchung an eingetragen wurde. Das Gesundheitsamt hat darauf geachtet, dass diese Termine wahrgenommen wurden. Das alles ist weg. Den Leuten wird viel mehr an Autonomie zugemutet. Es gibt einen kleinen Kreis von Personen, die unter dem Wegfall dieser Kontrollen leiden. Sie geraten aus dem Gleis, weil niemand mehr da ist, der sie im Gleis hält.INTERVIEW:
ANNA LEHMANN