„Terroristen sind meist nicht krank“

Der Attentäter von Hanau war psychisch krank, sagt die Psychiaterin Nahlah Saimeh. Dennoch habe seine Tat ein klar rechtsextremes Narrativ

Zwei Jungs bei der Mahnwache in Hanau am Donnerstag Foto: Christian Jungeblodt

Interview Sabine am Orde

taz am Wochenende: Frau Saimeh, der Täter von Hanau war von Rassismus getrieben – und scheint gleichzeitig eine schwere psychische Störung gehabt zu haben. Was bedeutet das?

Nahlah Saimeh: Wenn man sich das Video und auch seine Schrift anschaut, mischen sich mehrere Auffälligkeiten: Einerseits das Narrativ rechtsextremer Ideologie und Verschwörungstheorien. Hinzu kommen Hinweise auf eine schwere psychotische Erkrankung, wahrscheinlich eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie mit sehr bizarren Wahninhalten und akustischen Halluzinationen, auch eine sehr deutliche narzisstische Überhöhung der eigenen Person.

War die Tat also Wahn oder Terrorismus?

Anders als in vielen anderen Fällen, wo auch darüber gesprochen wird, ist hier ziemlich klar: Der Mann war krank. Es ist eine Gewalttat im öffentlichen Raum eines schwer psychisch Kranken mit einem politischen Motiv.

Es wird oft gesagt, die Grenze zwischen Wahn und Terror sei fließend. Kann man das klar unterscheiden?

In vielen Fällen ja. Aber die Übergänge können fließend sein. Und es ist sicherlich falsch, extremistische Überzeugungen per se als wahnhaft zu definieren. Es gibt Menschen mit politisch extremistischen Überzeugungen, die im gleichen Realitätsraum verortet sind.

Was heißt das?

Extremistische Gewalttäter ohne eine Psychose haben nicht das Gefühl, dass sie überwacht werden, dass Stimmen zu ihnen sprechen, und sie reden auch nicht über Zeitreisen. Sondern sie haben eine politische Überzeugung, die an eine persönlichen Bedürfnisstruktur anknüpft. Diese Überzeugung wird auf Gesellschaft und Politik projiziert. Aber das ist kein Wahn. Und es gibt natürlich auch Gruppierungen, denen die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Fakten abhanden gekommen zu sein scheint. Aber auch das ist kein Wahn. In dem Hanauer Fall aber ist es so, dass der Mann wahnhafte Vorstellungen und Muster einer schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit einem rechtsextremistischen Narrativ verknüpft und daraus ein Sendungsbewusstsein abgeleitet hat.

Kann man sagen, was zuerst da ist? Der Wahn – und dieser sucht sich eine Ideologie? Oder ist diese zuerst da? Und ist das überhaupt wichtig?

Das kann man nach jetzigem Kenntnisstand nicht sagen. Es kann sein, dass dieser Mann aufgrund seiner narzisstischen Persönlichkeitsstruktur für Rechtsextremismus anfällig war. Es kann auch sein, dass er durch die Erkrankung aus dem bürgerlichen Leben gerissen wurde. Um das zu beurteilen, braucht man viel mehr Hintergrund­informationen, auch zum Beispiel über psychiatrische Vorbehandlungen.

Auch jenseits von Hanau: Birgt die Pathologisierung von Terroranschlägen und Gewalttaten nicht die Gefahr, dass Rassismus und Terrorismus verharmlost werden?

Völlig richtig. Terror hat erst einmal gar nichts mit Psychia­trie zu tun, und Terroristen sind im Regelfall nicht psychisch krank. Sonst könnten sie die manchmal durchaus komplexen Anschläge auch gar nicht verüben. Diese Täter haben vielleicht eine schwierige Persönlichkeit, aber das sind keine psychischen Erkrankungen. Die Attentäter von 9/11 zum Beispiel waren nicht krank, auch wenn man in dem Testament von Mohamed Atta zum Beispiel sieht, dass der Mann schwere persönliche Probleme hatte. Bei Anders Breivik streiten sich die Gutachter, ob er krank ist. Täter mit einer psychischen Erkrankung sind eine kleine Gruppe, die meist zurückgezogen ist und sich oft selbst radikalisiert. In diesem konkreten Fall dieses Täters aber muss man feststellen: Der Mann war faktisch psychisch in einer sehr komplexen Weise schwer gestört.

Welche Rolle spielt die Männlichkeit? Der Mann aus Hanau hatte keine Frau, es gibt Hinweise in Richtung Incel-Bewegung, jener Internet-Subkultur, von überwiegend weißen, heterosexuellen Männern, die nach Eigenaussage unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr haben.

Männern, die sich radikalisieren, haben häufig Probleme mit Frauen, sie sind häufig misogyn. In diesem Fall hier wünschte sich der Täter eine Partnerin, aber einerseits stand ihm der Narzissmus im Wege und seine Äußerungen zeigen, dass er von einer Partnerin die Idee eines optimalen Objekts, eines tadellosen Produkts hatte. Wenn sich die eigene Überhöhung nicht mit der Lebensrealität deckt, ist das ein Potenzial für schwere Gewaltstraftaten. Zum anderen wird aber auch deutlich, dass sein Verfolgungs- und Beobachtungswahn dazu geführt hat, dass er Intimität gar nicht leben konnte.

Foto: Kay Michalak

Nahlah Saimeh

54, ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2017 ist sie als forensische Gutachterin selbstständig. Sie ist Dozentin und Autorin diverser Bücher.

Den Mann soll auch seine Mutter getötet haben, bevor er sich selbst erschoss. Wie deuten Sie das?

Das könnte ein erweiterter Suizid sein, nach dem Motto: Die Welt ist schlecht, und ich kann meine Mutter nicht allein zurücklassen. Auch das wäre ein psychotisches Motiv.

Laut einer Europol-Studie liegt bei 35 Prozent der allein agierenden Attentäter zwischen 2000 und 2015 eine psychische Erkrankung vor. Was kann man dagegen tun?

Das ist schwierig, weil solche Leute oft die Fassade aufrechterhalten und nicht auffallen. Der Mann aus Hanau, wie er da in seinem Video sitzt, der fällt im Supermarkt an der Kasse ja nicht auf, der benimmt sich ordentlich. Der läuft also möglicherweise unter dem Radar. Wenn man Leute mit Psychosen und wahnhaften Störungen in der Psychiatrie hat, dann muss man genau schauen, welches destruktives Potenzial kündigt sich an, welchen gesellschaftlichen Bezug gibt es, welche Themen werden berührt, wie groß ist das Sendungsbewusstsein?

Und was dann?

Dann muss man sie engmaschig anbinden, da muss man nachfragen, da darf man sich nicht zu fein sein. Und wenn eine Gewalttat droht, ist die Schweigepflicht ja aufgehoben. Und man muss die Allgemeinpsychologen in Sachen Radikalisierung dringend schulen.