Die orientierungslose CDU: Zeitgeist vs. Gegenzeitgeist

Die Grünen sind nicht mehr die Grünen, das ist der Grund für ihren Erfolg. Und die CDU? Sie weiß nicht, wer sie sein will. Das ist ihr Problem.

Das Logo der CDU

Die CDU am Boden – und jetzt: Wohin des Weges? Foto: dpa

In der Villa Reitzenstein hoch über Stuttgart sagt der baden-württembergische Ministerpräsident bei einer Abendveranstaltung zum Thema „Haltung“ relativ unvermittelt den Satz: „Haltung zeigen – und unter 5 Prozent rutschen: Das bringt erst mal gar nichts.“

Der Kontext ist sehr wahrscheinlich Winfried Kretschmanns Erfahrung mit seiner Partei und ihrer traditionellen grünen Kultur, politische Ohnmacht als Tugend zu interpretieren. Der Ministerpräsident hadert gerne mal damit, dass die Grünen ihm ja nicht folgten. Aber vielleicht unterschätzt er das Ausmaß der Kretschmannisierung auch.

Am Vorabend der Bürgerschaftswahl in Hamburg sind die Grünen in Deutschland nicht mehr der Gegenzeitgeist, als der sie vor 40 Jahren antraten. Diesen Gegenzeitgeist vertritt heute die AfD.

Die Grünen sind die führenden Vertreter des liberalen Zeitgeistes der Bundesrepublik.

Seine Vertreter und Wähler umfassen etwa ein Viertel des Elektorats und sind bereit für moderate Veränderung, etwa eine Intensivierung europäischer Ordnungspolitik in Sachen Klima, Wirtschaft, Soziales, Einwanderung und Verteidigung. Dagegen steht derzeit noch, das kann man in Hamburg sehen, eine Mehrheit, die Gründe hat, die Zukunft zu verschieben. Auch wenn sie etwa menschenfreundlichere Städte bringen würde. Lieber nicht.

Die Bundesvorsitzenden, diverse grüne Regierungsverantwortliche und ganz sicher die Hamburger Spitzenkandidatin Katharina Fegebank haben „Kretschmann kapiert“, wie Reinhard Bütikofer zu sagen pflegt, Sie sind also bereit, Politik am Alltag der Leute zu orientieren. Auch an dem anderer Leute als klassischer Grüner. Die sind mittlerweile sogar Minderheit in der Partei, die breite Teile der Mittelschicht erreicht, in Großstädten sowieso.

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Die Grünen sind nicht mehr die Grünen – das ist die Grundlage ihres Erfolges. Das muss man verstehen, und das kann man auch auf die andere Volkspartei übertragen. Das Problem der CDU ist nicht, dass sie nicht mehr die CDU von früher ist. Sondern, dass sie keinen zeitgemäßen politischen Ausdruck dafür findet, was „CDU“ ist.

Aber je stärker Kretschmanns wirtschaftsökologisch angehauchtes „Maß und Mitte“ und sein mehrheitsfähiger ökosozialliberaler Konservatismus die Grünen definiert, desto schwieriger wird es für die CDU, die ja de facto nach dem Ende von Rot-Grün und dem Niedergang der SPD die führende Partei des liberalen Zeitgeistes war.

Gegen diesen Zeitgeist rebellieren manche Ex-Wähler von CDU und SPD, weil sie sich als seine Verlierer sehen. Die einen haben ihre „bürgerlichen Werte“ verloren, was offenbar ethnische Superiorität, Vergewaltigungsrecht in der Ehe und dergleichen meint, die anderen sind angeblich von „Eliten“ und SPD betrogen worden.

Diesen Gegenzeitgeist haben die AfD und ihre Strategen gebündelt und versuchen ihn jetzt auszubauen. Einwanderung ist als emotionales Catchthema essenziell, egal ob es Flüchtlinge gibt oder – wie meist im Osten – eben nicht.

Zwischen Grünen und AfD, zwischen Mehrheits- und Minderheitszeitgeist hängt jetzt die nach beiden Seiten bröckelnde CDU. Sie weiß nicht mehr, ob sie den bundesrepublikanischen Zeitgeist anführen soll, wie 50 erfolgreiche Jahre lang. Oder bekämpfen.

Was nun die Wahl in Hamburg angeht, so können wir uns bei einem Sieg des Amtsinhabers auf die üblichen Leitartikel einstellen, die die Bedeutung für ein Doch-noch-Comeback der SPD analysieren wollen. Kann man vergessen. Was bleibt, ist, dass die neuen Parteivorsitzenden der Herzen Auftrittsverbot im Wahlkampf hatten. Mehr muss man nicht wissen.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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