Marias Vorrat an Empathie

Nurkan Erpulat inszeniert im Maxim Gorki Theater Simon Stephens’ neues Stück „Maria“ und rehabilitiert dabei die Online-Welten als wahre Begegnungsorte

Die Wohnung, die sich um 90 Grad gedreht hat, in „Maria“ Foto: Ute Langkafel/maifoto

Von Tom Mustroph

Der poetische Höhepunkt des Abends kommt, wenn aus einem in die Höhe gefahrenen Wäschekorb plötzlich sanft ein paar Kleidungsstücke auf die Erde hinuntersegeln und auch die Schauspieler*innen kurz innehalten. Kurz zuvor wurde die Wohnung von Hauptprotagonistin Maria um 90 Grad in die Höhe gekippt. Fußboden ist plötzlich Wand, Wand ist Decke und geschaffen ist ein ganz neuer Raum. Diese Raumverwandlungsidee (Bühne: Magda Willi) ist großartig. Reisen im Raum stellen denn auch ein zentrales Element dieses neuen, inhaltlich allerdings eher schwachen Stücks des britischen Dramatikers Simon Stephens dar.

Zuerst sehen wir Maria im Begriff, ihre Tochter zu gebären. Das erinnert natürlich an die Bilder, die vor den Madonna-mit-Kind-Abbildungen der Christenheit da gewesen sein müssen, für die die Kunstmäzene aus Mittelalter und Renaissance aber nur höchst selten einen Auftrag erteilten. Ausnahme ist die Madonna del Parto im toskanischen Ort Monterchi. Die Maria dieser Gorki-Inszenierung – gespielt von Vidina Popov mit jugendlichem Elan, fast schon bestürzender Naivität, aber auch Momenten der Nachdenklichkeit – schnallt sich den runden Bauch jedenfalls ganz pragmatisch auf der Bühne an.

Mit der Bibel-Maria hat sie auch sonst wenig gemein. Sie ist nicht Jungfrau, für sie kommen mehr als zwei Männer als potenzielle Väter infrage, Gabenspender aus dem Morgenlande tauchen auch nicht auf. Zudem lässt Autor Stephens seine Protagonistin teilhaben an den Segnungen der modernen Medizin. Diese Maria gebärt im Krankenhaus. Den Schwangeren-Talk mit dem Arzt (Till Wonka), der sich um die Schmerzen beim Gebären, ums Dicksein und um die Wahrscheinlichkeit, währenddessen auch Fäkalien ins Bett zu pressen, dreht, hat Regisseur Nurkan Erpulat stark beschleunigt. Gut möglich, dass er dem Text hier nicht traute.

Ernster wird es, als Maria sich auf die Suche nach jemandem begibt, der sie ins Krankenhaus begleiten mag. Niemand findet sich, nicht einmal die Oma (Çiğdem Teke). Nach der Geburt steht dann nicht das Kind – eine Tochter, kein Sohn – im Mittelpunkt. Vielmehr beherrscht Maria die Szenerie. Ihre Geschwätzigkeit und ihren unerschöpflichen Vorrat an Empathie bringt sie in ihren neuen Job als Chat-Hostess für Kundinnen und Kunden aus aller Welt ein. Für diese Szene ist bereits die graue Wand, die die Szene zuvor beherrscht hatte, umgekippt und gibt jetzt den Blick in Marias Wohnung frei.

Als „Christine“ empfängt sie einen einsamen pensionierten Polizisten, eine aus Eritrea stammende Migrantin, die nur will, dass ihr jemand mal in die Augen schaut, und einen durchgeknallten Typen, der eigentlich Onlinesex will und sich offenbar im Format geirrt hat. Die Chatwelt verlegt Erpulat in Marias Wohnung. Das ist eine schöne Idee. Denn so wird die Nähe deutlich, die sich herstellen kann. Anderseits berühren sich die Figuren niemals; sie sind ja auch durch die Monitore getrennt. Die Nulldistanz gibt es dabei einfach nicht.

Wenn es Stephens in seinem Stück darauf ankam, die sozialen und emotionalen Interaktionen der Onlinewelt herauszustellen und die Chat-Kommunikation für das sonst eher digital-kritische Theatermilieu zu rehabilitieren, ist das in dieser Inszenierung auch gelungen. Es ist allerdings der einzige relevante Aspekt. Die Darstellungen prekärer Lebensweisen, der Erosion von Familienverhältnissen und Freundschaften hat man schon wesentlich stärker akzentuiert gesehen, auch im Theater. Das Madonnen-Thema löst sich auch nicht so recht ein.

Wenigstens kippt am Ende die Wohnung noch einmal. Die Großmutter liegt in dieser ver-rückten Welt im Sterben. Zumindest sie bleibt souverän: Sie verweigert die Nahrung und tritt, in Maßen, selbstbestimmt ab.

Es ist kein großartiger Abend geworden. Phasenweise wirkt es wie eine Pflichtinszenierung. Das Nachdenken über das Aufwachsen heute zwischen Online-Spielwiesen, Offline-Stress und verlorener Orientierung wird aber befördert. Und erreichte möglicherweise sogar eine italienische Jugendgruppe in der – mit englischen Unter­titeln versehenen – Aufführung am Donnerstag.

Wieder am 20. und 26. 3., 19.30 Uhr