Kinder in Deutschland: Ihr lebt hier im Paradies!

Unsere Autorin kann nicht verstehen, warum die Deutschen sich für kinderfeindlich halten. Als US-Amerikanerin weiß sie, wie sich das wirklich anfühlt.

Drei Kinder mit Schulränzen auf Fahrrädern von hinten

In Deutschland ein normaler Anblick, in den USA undenkbar: Kinder radeln zur Schule Foto: Ralf Hirschberger/dpa

Deutschland soll ein kinderfeindliches Land sein. Sagen die Deutschen. Aber was ist dran an dieser Behauptung? Okay, es gibt Restaurants, die Kinder ausgeschlossen haben, damit Erwachsene in Ruhe essen können. Und manche Leute wirken sehr genervt, wenn ein Kind in der Straßenbahn herumschreit.

Und sicher, es gibt besorgniserregende Statistiken über Kinderarmut, schlechte Pisa-Werte und fehlende Kita-Plätze. Aber als zugewanderte US-Amerikanerin erlebe ich Deutschland dennoch als ein Paradies für Kinder.

In den USA haben Eltern Angst, ihre Kinder allein zur Schule gehen zu lassen. Das Leben für Kinder gilt dort als so gefährlich, dass es in den meisten Staaten illegal ist, Kinder unter zehn Jahren unbeaufsichtigt zu lassen! Die Polizei greift dann ein und Kinder können aus ihren Familien geholt werden, wenn sie allein zum Spielen in den Park gehen oder im Auto vor einem Supermarkt warten.

Es gibt noch extremere Indikatoren für Kinderfeindlichkeit in den USA. Ich denke an Zuwandererkinder, die an der Grenze von ihren Eltern getrennt, in Käfigen gehalten werden, ohne medizinische Versorgung und in einem weitgehend privatisierten Sozialsystem unauffindbar verloren gehen.

Im Jahr 2018 entschied ein Bundesgericht in Detroit – wo den öffentlichen Schulen Lehrkräfte, Bücher und sichere Gebäude fehlen –, dass Kinder kein Recht auf Grundbildung und Alphabetisierung haben. Schulschießereien geschehen jede Woche und gehören zur Normalität.

Weil Eltern in den USA ahnen, dass es anders gehen muss, ist ein Markt für hoffnungsvolle Berichte über andere (europäische) Lebensweisen mit Kindern entstanden. Zum Beispiel hat das Buch „Achtung Baby: The German Art of Raising Self-Reliant Children“ von Sara Zaske aus dem Jahr 2018 für große Aufmerksamkeit gesorgt. Darin ist von deutschen Kindern zu lesen, die selbstständig ihre Städte erkunden. Und trotz der Verletzungsgefahr mit Messer und Gabel essen! Oder im Kindergarten übernachten – und das ohne ihre Eltern.

„Wenn Sie sich fragen, wo Sie heutzutage glückliche, normale, un-helicoptered Kinder finden, lautet die Antwort: Deutschland!“ Das schrieb Lenore Skenazy, die Gründerin der Bewegung Free-Range-Kids, einer Art Selbsthilfegruppe für Eltern, die ihren Kindern ein bisschen mehr Freiheit zutrauen wollen. „Free Range“ ist eigentlich ein Begriff aus der ökologischen Landwirtschaft. Für freilaufende Hühner.

Anspruchsvolle Spielplätze, kostenloses Bio-Obst

Als ich vor sechs Jahren mit meinem damals dreijährigen Sohn nach Bremen gezogen bin, hat mich auch die unterschiedliche Einstellung zum Leben mit Kindern sehr bewegt. In Deutschland besteht Einigkeit, dass es eine Notwendigkeit für gute und bezahlbare Kindertagesbetreuung gibt. Mütter können Jahre frei nehmen, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Und sogar Väter haben einen Anspruch auf Elternzeit!

Dieser Ansatz ist eine große Abweichung von dem, was ich in den USA erlebt habe. Obwohl ich in Vollzeit als Journalistin arbeitete, habe ich nur während meiner Schwangerschaft eine bezahlbare Krankenversicherung bekommen können. Aber es gab keinen Mutterschutz, ich musste bis zur Geburt arbeiten und habe hinterher drei Wochen Urlaub bekommen. Und das war ein vergleichsweise großzügiges Angebot vom Arbeitgeber.

Meine Liste der Gründe, warum die Deutschen aufhören sollten, sich für kinderfeindlich zu halten, ist lang. Darauf steht auch: anspruchsvolle Spielplätze, ausgedehnte Gewöhnungsphasen in Kindergärten und kostenloses Bio-Obst und -Gemüse in den Schulpausen.

Als ich mich mit meiner neuen Adresse beim Einwohnermeldeamt anmeldete, erfuhr ich dort ungefragt, dass Mütter eine Haushaltshilfe beantragen können, wenn sie krank oder überfordert sind. Das hat mich so beeindruckt, dass ich Freunden in den USA davon berichtete. Es gibt zudem Kindergeld, ein bezahlbares Studium und Mutter-Kind-Kuren.

Und selbst wenn auch hier das Auto den Straßenverkehr dominiert: Es existieren immerhin Bürgersteige und Radwege, auf denen sich Kinder einigermaßen sicher bewegen können. Hinzu kommt der öffentliche Personennahverkehr.

Als mein Sohn eine Nacht im Krankenhaus verbringen musste, waren die Wände des Kinderflügels mit Auszügen aus der UN-Erklärung zu Kinderrechten geschmückt. Die USA haben die Kinderrechts-Konvention als einziger der 193 Mitgliedsstaaten nicht unterzeichnet. Das heißt, die Rechte auf Gesundheitsvorsorge, Bildung, Spiel sowie Schutz vor Ausbeutung werden US-amerikanischen Kindern nicht ausdrücklich garantiert. Und weder Kinder noch Erwachsene erfahren – anders als hierzulande – davon, dass es solche Rechte überhaupt gibt. Obwohl ich studiert habe, war dieser Krankenhausflur meine erste Begegnung mit diesem Text.

Inzwischen ist die kinderfreundliche Infrastruktur dieses Sozialstaats so alltäglich für mich geworden, dass mir vieles nur auffällt, wenn ich darüber nachdenke – so wie jetzt für diesen Artikel.

Bei allem Ärger über das, was in Deutschland vielleicht noch besser laufen könnte für Kinder: Es gibt viel, was sich lohnt zu verteidigen.

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