Schweigen aus Angst

Oleg Sentzow, der während der Euromaidan-Proteste verhaftet wurde, hat am Gorki-Theater seinen Film „Numbers“ präsentiert

Von Barbara Oertel

Es war in mehrfacher Hinsicht eine Premiere, die am Dienstagabend im bis auf den letzten Platz besetzten Berliner Gorki-Theater stattfand: die erste Aufführung des Films „Numbers“ von Oleg Sentzow, quasi als vorfristige Eröffnung der diesjährigen Internationalen Filmfestspiele. Und die Anwesenheit des ukrainischen Regisseurs – keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass sich der 43-Jährige in russischer Haft fast zu Tode gehungert hätte.

Allein die Entstehungsgeschichte des Films, die Adaption eines 2011 fertiggestellten Theaterstücks, ist bemerkenswert. Als die Dreharbeiten 2018 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew begannen, verbüßte der von der Krim stammende Sentzow in einer Strafkolonie bei Labytnangi am Polarkreis gerade eine langjährige Gefängnisstrafe, zu der er wegen angeblicher terroristischer Umtriebe auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel verurteilt worden war. Das bedeutete Regieführen per Brief.

Das Drama, das den Zuschauer nolens volens nach Parallelen zu Sentzows eigenem Schicksal suchen lässt, entfaltet sich in fünf Akten. Unter der Aufsicht eines omnipräsenten Führers und zweier bewaffneter Richter fristen Frauen und Männer, zehn an der Zahl, die Nummern statt Namen tragen, ihr Dasein in einem isolierten, bizarren Mikrokosmos. Sie sind Getriebene, ständig unterwegs zwischen „Start“ und „Finish“ und Regeln unterworfen, die so strikt wie absurd sind.

Dennoch ist den Beteiligten angesichts dieses Lebens im Ausnahmezustand nichts Menschliches fremd. Es geht um Träume, Machtlosigkeit, Angst, Liebe, Eifersucht und Verrat. Als ein kleiner Junge, wo auch immer entstanden, seiner Logik folgend die Vorschriften übertritt, wird er in einen Käfig gesperrt. Schließlich probt Nummer sieben den Aufstand, assistiert von Nummer neun, der ebenfalls Bekanntschaft mit dem Käfig gemacht hat. Und dann das Finale: Nummer sieben ist zu einem neuen Diktator mutiert, Nummer neun endet als Sklave. Getreu dem russischen Sprichwort: „Revolutionen werden von Romantikern gemacht, ihre Errungenschaften machen sich Arschlöcher zunutze.“

Sind Auflehnung und Widerstand also zwecklos? Zumindest Oleg Sentzow hatte bei der anschließenden Diskussion offensichtlich in den Widerstandsmodus geschaltet, was den ModeratorInnen, Volker Weichsel und Olga Radetzkaja von der Zeitschrift Osteuropa einigen Körpereinsatz abverlangte.

Wie jemanden anpacken, der im Vorfeld darum gebeten hatte, nicht auf Politik und seine Zeit in Haft angesprochen zu werden – auch wenn die Gründe nachvollziehbar sind. Für Sentzow, der im Herbst 2019 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs auf freien Fuß kam, sind Theaterstück und Film eine Parabel auf die Gesellschaft schlechthin – mit universeller Geltung. Schließlich habe er damals die weitere Entwicklung ja auch nicht vorhersehen können. Das klang eher bescheiden.

Der krimtatarische Schauspieler und Sentzows Co-Regisseur Akhtem Seitablayev, der mittlerweile in Kiew lebt, zeichnete ein düsteres Bild von der Situation auf der Krim. Dort herrsche Schweigen aus Angst. Ihm sei es jedoch wichtig, einen Unterschied zu machen zwischen der Kriegsmaschine des Kreml, will heißen der russischen Welt eines Wladimir Putin, und der „wahren“ russischen Welt, der Welt der Kultur und der des Schriftstellers Anton Tschechow, der Menschen, ihrer Sprache und Kultur. „Das russische Imperium ist untergegangen, aber die Völker existieren weiter. Auch wir Krimtataren werden bleiben“, sagte er.

Im Foyer bis zum bitteren Ende tapfer ausgeharrt hatten auch Mitglieder der Russland-Arbeitsgruppe von Amnesty International. Sie warben um Solidarität mit dem krimtatarischen Menschenrechtsverteidiger Emir-Usein Kuku. Er wurde im vergangenen Jahr aufgrund einer, ähnlich wie im Fall Sentzow, fabrizierten Anklage zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Schließlich unterschrieb auch Oleg Sentzow. Alles andere wäre auch merkwürdig gewesen.