Wie ein Onlinekommentar mit Überlänge

Marion Messina wurde in Frankreich mit ihrem Debütroman „Fehlstart“ mit Houellebecq verglichen. Dabei gibt es jede Menge Klischees, schiefe Bilder und Besserwisserei

Zu Unrecht gefeiert? Die Autorin Marion Messina Foto: P. Matsas/Opale/Leemage/laif

Von Johannes Franzen

Der Roman „Fehlstart“ von Marion Messina erreicht uns mit der Nachricht, es handele sich um ein in Frankreich gefeiertes Debüt, groß ausgestattet mit einem jubelnden Schriftzug aus der Zeitschrift Marianne: „Houel­lebecq hat eine Erbin.“ Und man muss zugeben, dass der Wiedererkennungseffekt schon auf der erste Seite frappierend ist: Ein Mann erwacht mit dem „Halbsteifen eines verkaterten Morgens“, die Wohnung ist klein und verstaubt, der Kühlschrank riecht säuerlich, er lädt Pornos herunter (jemand lässt sich „in den Arsch vögeln“), ein Kebab wird verspeist, ein Joint gedreht, ein Besäufnis geplant.

Von diesem jungen Mann, der Alejandro heißt und 24 Jahre alt ist, erfahren wir nicht nur, dass er in Grenoble Literatur studiert, sondern auch, dass er ein verhinderter Dichter ist, der auf seine Mitmenschen herabblickt, und der seine Freundin in Kolumbien zurückgelassen hat, die darüber dem autoaggressiven Wahnsinn verfallen zu sein scheint. Kurzum, es handelt sich bei Alejandro um das, was man umgangssprachlich ein ‚Arschloch‘ nennen würde. Oder, wie der dauermasturbierende Alejandro in einem seltenen Momente der Selbsterkenntnis konstatiert: „er war ein Wichser, im Wortsinn“.

Dieser junge Wichser nun ist allerdings auch ein ausgesprochen erfolgreicher Vögler, denn er bekommt – wie die Erzählerinnenstimme uns atemlos mitteilt – viele Frauen in sein Bett oder besser auf seine Matratze: „Mit dummen Bemerkungen über den HipHop und langen Zitaten von Cioran hatte er es geschafft, auf seiner zu weichen Matratze ein paar Mädchen zu vögeln, die er nur anhand der Festigkeit ihrer Brüste unterscheiden konnte.“

Hier sind sie tatsächlich alle versammelt, die Elemente eines echten Houellebecqs. Die Insistenz auf eine abgeklärte, sich besonders kalt gebärdende Sexualität, die allerdings ihre hippelige Aufregung darüber, ‚Popo‘ und ‚Scheide‘ gesagt zu haben, kaum verbergen kann; die kunstlose Sprache, die analytische Faulheit; der literarisch unterentwickelte Realismus, der in einer schnellen Abfolge deskriptiver Sätze lieber referiert, wie die Figuren so sind, anstatt ihren Charakter in Szenen zu entwickeln. Vor allem aber finden wir hier den angemaßten, durch keine Weltweisheit legitimierten Zynismus wieder, der seinen Leser*innen den Eindruck vermittelt, zu den Eingeweihten des Lebensekels zu gehören, zu einer Elite derjenigen, die immer schon alles durchschaut haben. Man hat auf den ersten Seiten noch den Verdacht (und die leise Hoffnung), es könne sich beim Beginn dieses in Frankreich doch „gefeierten“ Romans um eine ziemlich geschickte Parodie auf Houellebecqs Prosa handeln. Allein, auf eine Auflösung wartet man vergeblich.

Im Übrigen geht es in „Fehlstart“ gar nicht so sehr um Alejandro, über den wir trotzdem schmerzhaft viel erfahren. Es geht um Aurélie, eine junge Frau aus „einfachen Verhältnissen“, die in Grenoble „studiert“ und davon träumt, ihrer „Herkunft“ zu entfliehen. Solche Kursivierungen durchziehen den gesamten Roman als extrem enervierendes Stilmittel – um eine Ironie zu markieren, die sich aus dem inhaltlichen Zusammenhang oft gar nicht ergibt. So klingt das Buch von Anfang an, als würde es mit konstantem Augenrollen vorgetragen.

Nach 70 Seiten (und das ist die Hälfte des Romans) hat man immer noch nicht so recht erfahren, warum man sich für die Gefühle und spärlichen Erlebnisse dieser jungen Menschen interessieren sollte. Aurélie ist von ihrem Studium, wie es scheint, zunächst unterfordert, dann überfordert, hat mit Alejandro erst eine kalte, transaktionelle Beziehung, ist dann wieder unglücklich verliebt. Man hat den Eindruck, der Roman vergisst zwischenzeitlich immer wieder, was die Figuren eigentlich ausmacht, und beginnt dann einfach von vorne. Jedenfalls bricht Aurélie ihr Studium schließlich ab, geht nach Paris, arbeitet dort als Hostess und ist in irgendeiner Form typisch für eine deklassierte Mittelschicht.

„Fehlstart“ will dringend eine Sozialstudie über Frankreich sein

Man merkt, dass „Fehlstart“ dringend eine Sozialstudie über Frankreich sein will, über die Art, wie junge Menschen dort durch ihre Herkunft determiniert sind. Allerdings hat der Roman zu diesem Thema wenig Originelles zu sagen, und das, was er zu sagen hat, wird in klobigen Referaten dargeboten, die vor allem einen eklatanten Mangel an narrativer Disziplin zum Ausdruck bringen. Die ganze Zeit fragt man sich: Wer spricht hier, wer denkt, wer kommentiert hier? Ist es die Protagonistin oder eine andere Figur, ist es die Erzählerin, die Autorin?

Viele Beobachtungen und Meinungen in diesem an Beobachtungen und Meinungen überreichen Roman sind schludrig gebaut. Über die zufälligen Gesprächspartner*innen, die Aurélie dann in Paris trifft, heißt es, sie würden sich verabschieden, „ohne sie nach ihrem Namen gefragt zu haben, dankbar und erleichtert wie nach einem sublimierten Koitus, für den sie bezahlt hätten“. Es bleibt der Literaturwissenschaft zukünftiger Zeiten überlassen, dieses mehrfach schiefe Bild zu entwirren. Da freut man sich fast, wenn ein Bild einfach nur als Klischee daherkommt: „Paris war hässlich, verdorben und ungesund, wie eine syphilitische Nutte.“ Mon dieu!

Der Koitus wird aber nicht nur als Bildspender überstrapaziert – Sex durchwirkt diesen Roman wie ein altes benutztes Taschentuch, das achtlos neben das Bett... Aber lassen wir das. An einer Stelle ist davon die Rede, dass Aurélie in besseren Zeiten ihren Alejandro „von seiner überschüssigen Samenflüssigkeit“ befreit habe. Doch nun nach der Trennung würde das „erektile Organ zwischen seinen Beinen“ ihn nötigen, „eine andere Vagina zu erobern.“ Abgerundet wird eine solche gestelzte Beschreibung von Sex dann durch eine bahnbrechende Weisheit wie diese: „Regelmäßiges Ejakulieren war genauso notwendig wie Essen und Pinkeln.“ Aber so sind sie, die Männer ihrer Generation, „so gesättigt von Pornofilmen, besessen von Fun und Party, dass das Eheleben gewiss nicht auf ihrer Wunschliste stand.“ Und so ist er, dieser Roman: so empört über die Schlechtigkeit der Welt wie ein überlanger Onlinekommentar und ähnlich begeistert davon, es besser als andere zu wissen.

Marion Messina: „Fehlstart“. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Hanser Verlag, München 2020, 168 Seiten, 18 Euro