brexit
:

Ich laufe an dem Schild vorbei

Drei Mal verlässt der taz-Korrespondent am Abend des Brexit die EU – und schwupps, ist er wieder drin

Autobahnausfahrt Nummer 20 gehört noch zur Republik Irland, am Ende der Ausfahrt ist man jedoch in Nordirland

Aus Carrickcarnan (Irland)Ralf Sotscheck

Es ist wie Silvester. Aber ich zähle nicht die Sekunden bis Mitternacht, sondern bis 23 Uhr. Die Brexit-Uhr läuft nach Brüsseler Zeit. Und die ist uns eine Stunde voraus.

Auf der Brücke über der Autobahn zwischen Dublin und Belfast bei Carrickcarnan haben sich abends um halb neun zweihundert Menschen versammelt, um gegen den Brexit zu protestieren. Zu der Demonstration, die auch an fünf anderen Stellen entlang der 500 Kilometer langen irischen Grenze stattfindet, hat die Organisation „Border Communities Against Brexit“ aufgerufen: Bauern, Angestellte, Arbeiter und Geschäftsleute aus den Grenzregionen auf beiden Seiten.

Bis zur Brücke habe ich die Grenze bereits zwei Mal überquert. Die Autobahnausfahrt Nummer 20 gehört noch zur Republik Irland, am Ende der Ausfahrt ist man jedoch in Nordirland. Biegt man nach rechts zur Brücke ab, ist man nach hundert Metern wieder in der Republik. Das erkennt man aber lediglich an den Geschwindigkeitsbegrenzungen. In der Republik sind sie in Kilometern angegeben, in Nordirland in Meilen. Die alten irischen Stämme wussten damals noch nichts von Autobahnen und Brexit, sonst hätten sie sich bei der Aufteilung der Insel mehr Mühe gegeben.

Überquert man die Brücke und biegt links ab, gelangt man nach anderthalb Kilometern wieder nach Nordirland. Kurz vor der Grenze kommt links ein großes Möbellager, denn die Nordiren kaufen ihre Einrichtungen gerne in der Republik ein. Direkt nach der Grenze, neben der Wechselstube, liegt rechts ein großes Geschäft für Feuerwerkskörper, denn die dürfen in der Republik nicht verkauft werden. Eigentlich dürfen sie überhaupt nicht ohne schriftliche Lizenz der Kunden abgegeben werden, aber der Laden wirbt unverblümt mit Parität zwischen Pfund und Euro.

Einer der Demonstranten auf der Brücke bei Carrickcarnan ist Seamus McDonnell, ein Bauer, der bei Ravensdale Felder auf beiden Seiten der Grenze besitzt. Er sagt: „Ich habe gegen den Brexit gestimmt. Wir Bauern in Nordirland beziehen 80 Prozent unseres Einkommens von der EU. Wenn das Geld wegfällt, ist auch meine Farm weg.“

Unter den Demonstranten ist auch Conor Murphy, der Abgeordnete von Sinn Féin und Finanzminister im Belfaster Regionalparlament. Während des Hungerstreiks der Gefangenen 1981 trat er in die Irisch-Republikanische Armee (IRA) ein, wurde aber ein Jahr später wegen Mitgliedschaft und Sprengstoffbesitz zu fünf Jahren Haft verurteilt. 2005 wurde er ins Londoner Unterhaus gewählt, nahm den Sitz aber getreu dem bis heute andauernden Unterhaus-Boykott von Sinn Féin nicht ein. Im selben Jahr war er das erste Sinn-Féin-Mitglied, das auf einem Tory-Parteitag sprechen durfte.

„Wir wissen, dass der Brexit keine gute Sache für diese Insel ist“, sagt er jetzt in Carrickcarnan. „Wir haben dagegen gestimmt, und wir werden gegen unseren Willen aus der EU entfernt.“ Murphy verlangt, dass Nordirland weiterhin eine Stimme in der EU haben müsse. „Wir müssen uns für die Rechte der Menschen in Nordirland einsetzen, die einen irischen Pass haben und die europäische Bürger sein müssten, aber diesen Status in einer Stunde nicht mehr haben werden.“

Um Punkt 23 Uhr hört der Nieselregen auf. Die Demonstration hat sich längst aufgelöst. Ich laufe an dem Schild vorbei, das darauf hinweist, dass die Geschwindigkeitsbegrenzung ab hier in Meilen angegeben ist, und bin zu Fuß aus der EU ausgetreten, als Erster. Eine Stunde später ist Frühlingsbeginn. Jedenfalls nach dem keltischen Kalender.