Großbritannien vor dem Brexit: Wider den Fatalismus

Am Freitag ist offizieller Brexit-Termin. Wie fühlt sich das für einen Deutschen an, der seit 1999 in der britischen Stadt Birmingham lebt?

Straßenszene in Birmingham

Straßenszene im Viertel Digbeth in Birmingham, wo viele den Brexit befürworten Foto: Mike Kemp/getty images

Auch der 31. Januar 2020 wird wieder ein Tag wie jeder andere sein. Business as usual. Zumindest in Birmingham, der zweitgrößten Stadt des einstmals großen Britannien. Dort arbeite ich seit Anfang 1999 an einer Universität, als Dozent für German Studies, wie das hier heißt, denn landeskundliche Wissensvermittlung und Sprachunterricht haben längst das Studium der deutschen Literatur und Kultur ersetzt.

Anders verlaufen dürfte der Tag in London: Der stramm rechte Parteiführer der Ukip, Nigel Farage, übrigens verheiratet mit einer Deutschen, wird zur Feier der segensreichen Befreiung vom Brüsseler Joch – da muss man sich letztmals nach Europa richten – das Läuten von Big Ben vom Tonband abspielen. Wegen der Zeitverschiebung nicht erst Punkt Mitternacht – denn für den Zeitpunkt des Austritts gilt die kontinentaleuropäische Zeit –, sondern schon um 23 Uhr Greenwich Mean Time. Eine Farce, so wie der ganze Brexit.

Der konservative Pre­mier­minister Boris Johnson wiederum dürfte, zusammen mit den Getreuen seines Kabinetts, triumphal ins Blitzlichtgewitter grinsen. Denn beide Politiker haben erreicht, was sie schon immer wollten: das Amt des Premierministers und den Ausstieg aus der Europäischen Union, oder anders gesagt: eine tief greifende politische Katastrophe samt totaler Selbstdemontage des (Un-)Vereinigten Königreichs.

Dummheit siegt

Aber der wahre Schock war der 24. Juni 2016. Am Vorabend hatte ich in Berlin die Buchpräsentation einer Veröffentlichung über Bob Dylan moderiert. Als wir danach zusammensaßen, sagten mir viele Freunde und Bekannte: „So dumm können die Briten doch nicht sein. Die Vernunft wird siegen.“ Ich war mir unsicher, rechnete schon damals mit einem knappen Ausgang, allerdings gegen den Brexit. Es wurde knapp, ging aber genau andersrum aus. Dummheit siegt. Unter den britischen Germanisten, freilich nicht nur bei ihnen, herrschte lange Zeit veritable Schockstimmung. Dann wurde der Wahnsinn zur Normalität, die Dummheit zum politischen Leitfaden.

Wann, wenn nicht jetzt, hätte die Königin ausscheren müssen, um direkt oder indirekt zu versuchen, die Selbstzerstörung ihres Landes zu verhindern?

Doch es gab ja ohnehin erst mal drei Jahre Ruhepause. Manche Kollegen bauten da­rauf, dass es eh nie so weit kommen würde; eine Kollegin beantragte sicherheitshalber die britische Staatsbürgerschaft. Ich tauschte meine drivers’s licence gegen einen deutschen Führerschein und beantragte einen deutschen Personalausweis. Zugegeben: hilflose Symbolgesten, aber mit dem britischen Staat wollte ich fortan nichts mehr zu tun haben. Nach nahezu 25 Jahren in England, in denen ich mich zu ungefähr einem Drittel durchaus als Brite gefühlt habe.

Als ich nach dem Referendum mit den Studierenden über das Ergebnis sprach, trat etwas für mich nicht minder Schockierendes zutage: Nur eine Minderheit hatte überhaupt von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht und an der Abstimmung teilgenommen. Demo­sko­pi­sche Analysen bestätigten das: Konservative Brexit-Be­fürworter über 50 hatten die europa­freund­liche Generation der 18- bis 35-Jährigen einfach überstimmt, da diese kein sonderliches Interesse an der politischen Entscheidung, die maßgeblich über ihre Zukunft bestimmen wird, gezeigt hatte. Aber vielleicht, so denke ich manchmal, ist das die gerechte Strafe für diese depolitisierte Generation? Die einzige Person, die sich im Seminarraum über den Brexit aufregen kann, bin ich. Die Studierenden nehmen alles eher gleichmütig oder fatalistisch hin.

Politische Unmündigkeit

Die politische Unmündigkeit der jungen Menschen ist freilich eine Folge der zur Abschaffung tendierenden Reduktion solcher Unterrichtsfächer wie Sozialkunde und Geschichte an den Schulen. Dass zudem der verpflichtende Fremdsprachenunterricht in einer der vielen verqueren Bildungsreformen der Tories abgeschafft wurde, ist kardinal verantwortlich für die beständig sich verschlimmernde Misere des Studienfachs Modern Languages.

Stand ich vor 20 Jahren in den Pflichtvorlesungen noch 50 oder mehr Studierenden gegenüber, so schaue ich mittlerweile in weniger als fünf Gesichter. In anderen Kursen sind teilweise nur noch um die zwei Studierende, Tendenz fallend. Wohin dieser sich seit rund 15 Jahren in ganz Großbritannien vollziehende Prozess zunehmenden Desinteresses an Fremdsprachen und Geisteswissenschaften, begleitet von Einschränkungen der akademischen Freiheit, noch führen wird, ist schwer zu sagen. Es lässt sich gleichwohl leicht a­usrechnen.

Den Brexit sehe ich insofern als ein Epiphänomen der ganzen Abkopplung des multikulturellen Großbritannien von Europa. Das überwiegend Leave wählende Birmingham ist dafür paradigmatisch, denn die Millionenstadt ist stark von Mi­grant*innen aus Pakistan, Indien und den West Indies geprägt, ­deren kultureller Horizont nicht in Berlin oder Paris liegt, sondern in ihren Herkunftsländern. Der Brexit bedeutet für diese Schichten, ironischerweise, eine willkommene Revitalisierung der alten Commonwealth-Bande.

Kein Teil von Europa?

Wie ein Teil von Europa hat sich England für mich ohnehin nie angefühlt. Das war ja lange Zeit das Schöne daran, ein Auslandsdeutscher zu sein. Auch wenn man, wegen Britanniens Schengen-Verweigerung, so wie früher bei jeder Einreise Schlange stehen und den Pass vorzeigen musste; dafür durfte man die Uhr umstellen, Entfernungen wurden in Meilen angegeben und die Euros gegen die seltsame Währung der Briten getauscht: komische Münzen in markant unterschiedlicher Formgebung und Material, keine Banknoten über 20 Pfund (seit Kurzem aus glibberigem Plastik) und überall das Konterfei der jugendlichen Königin.

Überhaupt, Her Majesty! Zwar besaß Großbritannien noch lange den Nimbus, ein Hort der Demokratie zu sein, dass die Monarchie jedoch nie abgeschafft wurde, ist meines Erachtens für das demokratische Defizit und die politische Misere des Landes ausschlaggebend. Die pure Existenz der mit pomp and circumstance den Staat repräsentierenden königlichen Familie stützt das unverändert herrschende Klassensystem. Und damit die skandalöse Kinderarmut, das markante sozioökonomische Gefälle zwischen Nord und Süd und die Existenz sozial entkoppelter Unterschichten.

Dass auch die Windsors eine komplett dysfunktionale Familie sind, hat sich nicht erst seit dem Skandal von Prinz ­Andrews Komplizenschaft mit dem Se­rienvergewaltiger ­Jeff­rey Epstein und der Seifenoper um Harry und Meghan gezeigt. Wann, wenn nicht jetzt, angesichts der Tragikomödie des Brexit, hätte die Königin ausscheren müssen, um direkt oder indirekt zu versuchen, die Selbstzerstörung ihres Landes zu verhindern?

Angst vor No-Deal-Brexit

Die Weichen dafür sind gestellt. Dass ich dem 31. Januar keine sonderliche Beachtung zumesse, liegt natürlich daran, dass es der 1. Januar 2021 sein wird, an dem sich alles entscheidet. Doch, so fürchte ich, die Würfel sind längst gefallen: Alles wird auf einen für alle desaströsen No-Deal-Brexit hinauslaufen, vielleicht sogar aus Westminster bewusst dorthin gelenkt werden.

Selbst wenn der Politclown Boris Johnson, gegen seine erklärten Absichten, vor Jahresende 2020 doch noch um eine Verlängerung der Fristverlängerung bitten wird, reicht das nicht aus, um die notwendigen multilateralen Handelsverträge zu schließen. Neben den ökonomischen Folgen, die das alles hat, werden sich die großzügigen Finanzierungsversprechen der Regierung als hohl herausstellen. Das Gesundheitswesen NHS wird noch weiter zusammenbrechen, und auch die politischen Folgen für die union sind unabsehbar, weil auf jeden Fall die Schotten, wohl die Nordiren und vielleicht auch die Waliser die nationalistische Verantwortungslosigkeit der Engländer nicht länger tolerieren werden.

Ein Zerfall des United Kingdom liegt im Bereich des Möglichen. So oder so wird die inkompetente Regierung unter Boris Johnson, nein: das ganze Land wird einen ökonomischen und sozialen Schiffbruch erleiden. Und um es offen zu sagen: Nach all dem, was ich in den letzten dreieinhalb Jahren erleben musste, wünsche ich es den Verantwortlichen sogar. Schadenfreude ist immerhin ein deutsches Wort, das man auch in England kennt (wenngleich man es nicht korrekt auszusprechen versteht).

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Uwe Schütte, geboren 1967 in Menden, NRW, lehrt German Studies in Großbritannien und hat zahlreiche Bücher über deutsche Literatur und Popmusik veröffentlicht. Jüngst erschienen: „Annäherungen. Sieben Essays zu W. G. Sebald“ (Böhlau 2019) und „Kraftwerk: Future Music from Germany“ (Penguin 2020).

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