Ein soziales Ereignis

Gewalt ist kein Rätsel. Ihre Erforschung ist voll von Zirkelschlüssen

Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl: „Gewalt erklären!“. Hamburger Edition, 2019, 240 Seiten, 22 Euro

Von Rudolf Walther

Wolfgang Knöbl, Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung, und Thomas Hoebel, wissenschaftlicher Mitarbeiter an diesem Institut, haben eine Studie vorgelegt, die sich mit einem ebenso sperrigen wie ungeklärten The­ma der Soziologie beschäftigt: Gewalt. Was ist sie, wie entsteht sie, wie realisiert sie sich, und wie sollte sie erforscht werden? Das wichtigste Ergebnis vorweg: Wissenschaftler haben sich bislang mehr mit der überaus komplexen Frage, „warum“ Gewalt in die Welt kommt als mit der einfacher durchschaubaren, „wie“ Gewalt funktioniert, beschäftigt.

In der Soziologie ist es um die Forschungslage schlecht bestellt. Das liegt vor allem an der methodologisch und wissenschaftstheoretisch ausgesprochen unterkomplex agierenden Gewaltforschung bei der Frage nach den Ursachen. Die einfachsten Antworten mikrosoziologischer und kriminologischer Studien etwa behandeln diese schwierige Frage, indem sie Gewalt einfach mit sozialstatistisch ermittelten Grundtat-beständen (Armut, Herkunft, Bildung, Religion) als Varia­blen ins Verhältnis setzen und im Handstreich zum Schluss gelangen, dass arme, migrantische oder wenig gebildete Menschen stärker zu Gewalt neigen als besser verdienende, deutsche, gebildete oder christliche Bürger. Solche Improvisationen verkennen, dass der Zusammenhang zwischen Gewalt und Armut entschieden komplizierter ist, als es so grobianische Kausalvermutungen glauben machen wollen.

Einzelne Gewaltforscher, wie Jan Philip Reemtsma, ziehen aus den schwer zu ergründenden Ursachen der Gewalt den resignativen Schluss, Gewalt könne man nicht erklären, sondern allenfalls beschreiben. Andere Soziologen, wie Randall Collins empfehlen dagegen ein reduktives Verfahren. Sie untersuchen und erklären nämlich Gewalt nicht mehr auf der Ebene der Gesellschaft, sondern nur noch im sozialen Mikrokosmos, in dem Akteure und Opfer buchstäblich im Hautkontakt sind. Beide Antworten verwerfen Hoebel und Knöbl in ihrer subtilen Kritik.

Wenn es um die Ursachen und die Erklärung von Gewalt geht, arbeiten Soziologen mit drei Heuristiken beziehungsweise Arbeitshypothesen oder Methoden. Die einen heben auf die Motive der Täter ab, andere, wie der erwähnte Collins, untersuchen Gewalt nur im empirisch leicht zugänglichen, weil direkt beobachtbaren Nahbereich, wo man ohne Fragen zu den schwer aufdeckbaren Motiven der Täter auskommt, um deren Taten zu erklären. Die dritte Hypothese beruht weder auf Motivsuche noch auf der Analyse von Situationen, in denen Gewalt konkret geschieht, sondern untersucht Konstellationen wie Bürgerkriege, die Gewaltanwendung ermöglichen.

Alle drei Hypothesen – Motiv-, Situations- und Konstellationsansatz – führen zu Zirkelschlüssen und lassen mehr offen, als sie erklären. Der momentan sehr beliebte Ausweg, Gewaltursachen nicht mehr zu erklären, sondern diese durch „Erzählungen“ zu ersetzen, ist noch weniger aussichtsreich und führt schnurstracks in den intellektuellen Sumpf der Beliebigkeit, das heißt zu „Narrativen“, von denen es mindestens so viele gibt wie potenzielle Erzähler.

Hoebel und Knöbl empfehlen eine Alternative: das prozessuale Erklären von Gewalt. Zur Grundstruktur von Gewaltanwendung gehört ihr temporaler Charakter, das heißt ihr zeitlicher Verlauf, was nicht trivial, sondern folgenreich ist. Gewalt fällt nicht vom Himmel, aber Täter sind bei ihren Taten auch nicht unbedingt und nicht hauptsächlich von sozialen Prägungen gesamtgesellschaftlicher Art bestimmt.

So waren zum Beispiel unter den Mörderbanden von Hitlers Einsatzgruppen, die in Osteuropa systematisch Juden umbrachten, nur eine Minderheit eingefleischte Antisemiten. Für die Erklärung der Morde dieser „ganz normalen“ Männer (Christopher Browning) bringt der Hinweis auf „Antisemitismus“ wenig, die minutiöse Rekonstruktion des Ablaufs der Morde, der enorme Druck auf die Täter, die Erwartungen der mörderischen Organisation an ihre Mitglieder zu erfüllen, die wechselseitige Beobachtung und Kontrolle der Täter sowie die Beschränktheit der Alternativen zum befohlenen Mord bergen entschieden mehr an Erklärungspotenzial. Das Buch bringt frischen Wind in eine öde Debatte über Gewalt und ihre Ursachen. Ihm sind viele Leser zu wünschen.